
Interview with An Fonteyne in Swiss newspaper NZZ, 05.09.2018
An Fonteyne: “Es ist kein architektonisches, sondern ein politisches Versäumnis, dass sich Subkulturen entwickelt haben”
An Fonteyne, Professorin an der ETH Zürich, ist die Architektin der Stunde: Sie engagiert sich für die Zukunft Europas und seiner historischen Bausubstanz.
Interview: Antje Stahl, NZZ, 5.9.2018; Link NZZ Homepage
AS: An Fonteyne, Europa werde nurmehr als eine Währungsunion wahrgenommen, die die Souveränität und Sicherheit der Länder bedrohe, sagten Sie genau vor einem Jahr zu Beginn Ihrer Lehrtätigkeit an der ETH und forderten Ihre Studenten auf, dieses Bild zu korrigieren. Was genau hat das mit Ihrer Professur für «Architektur und Entwurf» zu tun?
AF: Na ja, dieses Bild haben wir ja nicht erfunden . . . spätestens seit der Finanzkrise in Griechenland hat sich eine Krisenstimmung verbreitet, die durch den Terrorismus und die Migrationsbewegungen leider noch weiter verschärft wurde. Sobald es um Lösungsansätze geht, müssen Länder und Europaparlament miteinander kommunizieren, obwohl sich offenbar kaum jemand mit Letzterem identifiziert, es gar ablehnt. In Brüssel, wo ich lebe und arbeite, fragt man sich notgedrungen, ob das vielleicht auch mit der mangelnden Sichtbarkeit der EU zu tun hat. Jede Staatsgründung manifestiert sich durch eine Hauptstadt und selbstverständlich in Gebäuden, auf die man auch stolz ist, vor denen Menschen sich zu Feier- und Gedenktagen fotografieren lassen. In Brüssel wurde die Ankunft europäischer Einrichtungen bereits seit den fünfziger Jahren geplant, allerdings nicht von der EU, sondern von privaten Investoren. Die gesamte Infrastruktur wurde nicht in die Stadt integriert, aber selbst in diesem isoliertem Europaviertel aus Bürogebäuden gibt es für Europäer keine Anlaufstelle, keine architektonische Manifestation der EU. Der Besuch des Parlaments etwa erfordert eine aberwitzig langfristige Planung, komplizierte Anmeldung mit Reisepässen, Wartezeiten und so weiter.
AS: Das heisst, Ihre Studenten sollten ein Monument beziehungsweise Denkmal für Europa entwerfen?
AF: Nein! Wir suchten nach einem lebendigen Gebäude, einer Begegnungsstätte, in der Europa gefeiert und diskutiert wird, die Informationen und Unterstützung bietet. In den sechziger Jahren wurde entgegen internationalen Protesten die Maison du Peuple von Victor Horta im Zentrum von Brüssel abgerissen. Die belgische Arbeiterpartei hatte dieses weitläufige Gebäude in Auftrag gegeben, das 1899 als eine Art Volkshaus eröffnet wurde, in dem sich Menschen aus allen Schichten und Stadtvierteln begegnen konnten. Neben einer Bäckerei, die dafür sorgte, dass sich auch jeder Brot leisten konnte, gab es Kleidungsgeschäfte, ein wundervolles Grand Café sowie ein Auditorium für mehr als 1500 Menschen. Wir interessieren uns für diese Spannung zwischen Dienstleistung und Politik und nahmen es zum Vorbild, um über eine Architektur nachzudenken, die die unterschiedlichen nationalen und kulturellen Identitäten vereinen könnte.
AS: Der belgische Pavillon wurde anlässlich der Venedig-Biennale ebenfalls zu einem Forum mit europablauem Anstrich ausgebaut. Können Architekten das Gespräch über die Res publica retten?
AF: Architektur kann Dinge verändern, davon bin ich überzeugt. Auf dem Grundstück der Maison du Peuple steht heute ein Hochhaus, ein architektonisches Machtinstrument. Wir stellten uns hinsichtlich der gebauten Realität deshalb eher der Herausforderung, welche Eingriffe die von uns gesetzten Ziele realisieren könnten. Der Turm ist im Erdgeschoss nicht öffentlich zugänglich, es gibt keine Interaktion, lediglich ein Parkhaus. Gemeinsam mit den Studenten versuchten wir, diese architektonische Ausgangssituation so umzudenken, dass der Turm zu einem idealen Ort für Europäer wird. Einige öffneten das Erdgeschoss, andere versuchten, die Strassen nach oben zu verlegen, ein Student entschied sich dennoch, diesen Turm abzureissen: Er sagte, wir müssten Europa von der Leere aus denken.
AS: Gegenwärtig könnte man den Eindruck gewinnen, ein Zentrum, das eine Hauptstadt und ein Volkshaus ja voraussetzen, sei genau das, was die sogenannten Ränder Europas so aufregt: Die da in Brüssel treffen über unseren Kopf hinweg Entscheidungen, heisst es.
AF: Das ist ein interessanter Punkt: In zahlreichen Gesprächen mit Kollegen, die mit ebenso grossem Optimismus für ein vereintes Europa eintreten wie wir, diskutierten wir viel über das Netzwerk, das das Zentrum ersetzten könnte. Wir fragten uns, ob Europa einer repräsentativen Architektur bedürfe, die ungefähr so wie McDonalds an jeden Ort verpflanzt werden kann. Oder ob die architektonische Sprache in einen Dialog mit den lokalen Bedingungen treten solle, sich auf das Regionale einlässt . . . Im Rahmen unseres Seminars wollten wir uns aber einer konkreten Bauaufgabe stellen.
AS: Gemeinsam mit dem Zürcher Büro EM2N und Sergison Bates Architects aus London gewannen Sie den Wettbewerb für den Bau des neuen Centre Pompidou in Brüssel, ein wahrlich europäisches Unternehmen, könnte man meinen.
AF: Das ist ein sehr heikles Thema in Belgien, daher möchte ich Sie gleich korrigieren. Das neue Museum wird keine Aussenstelle des Centre Pompidou etwa wie in Metz oder in Malaga. Für den geplanten Zeitraum von zehn Jahren werden Kunstwerke aus der Sammlung ausgestellt. Das neue Musée Kanal, das wir planen und das voraussichtlich 2022 eröffnet, wird ein Museum für moderne und zeitgenössische Kunst beherbergen, das eine eigenständige Sammlung aufbaut, sowie Civa, das internationale Zentrum für Architektur.
AS: Auch hier werden Sie mit der bestehenden Architektur, der einstigen Werk- und Verkaufshalle von Citroën, arbeiten.
AF: Es ist ein wundervolles Gebäude, das direkt an einem Kanal und zwischen dem touristisch erschlossenem Stadtkern und Molenbeek liegt, das heisst sehr viel Potenzial hat, einen Austausch mit dem Stadtviertel zu pflegen, das ja leider als Brutstätte des Dschihads stigmatisiert wird. Das Gebäude verfügt über einen beeindruckenden Showroom, eine Kathedrale aus Glas, in der früher die Autos gezeigt wurden, und eine grosse Halle – 200 mal 100 Meter. Es steht nicht unter Denkmalschutz, aber wir wollten diese Architektur unbedingt behalten und dafür sorgen, dass sie Teil der Stadt wird. In Brüssel gibt es einen grossen Bedarf an Rückzugs- und Aufenthaltsorten, daher schlugen wir vor, den vorderen Ausstellungsraum für die Öffentlichkeit zu öffnen, etwa Bibliotheken und Leseplätze einzurichten. In die Halle werden wir drei Architekturen setzen, die sich am angrenzenden Theater orientieren und in denen Büros und auch die klimatischen Bedingungen für die Ausstellung von Kunst geschaffen werden können.
AS: Hier erkennt man die Handschrift Ihres Büros mit dem programmatischen Namen noAarchitecten, die gebaute Welt zu transformieren, anstatt neue laute Gebäude zu entwerfen.
AF: Wir waren von Anfang an ein Kollektiv, über dem kein Name eines Architekten stehen sollte, der auf architektonische Statements und Ikonen wie in Bilbao setzt. Wir glauben stark an kulturelle Kontinuität und versuchen, selbst an den Orten, die man kaum als «schön» bezeichnen kann, so lange zu suchen, bis wir die Qualität aufspüren, aus der ein Gebäude sein Leben bezieht. Manchmal muss man nur ein Detail ändern, und plötzlich verändert sich alles, auch die Umgebung. W. G. Sebald gehört zu den Autoren, die mir die Augen dafür geöffnet haben, dass Geschichte immer Historie und Fiktion sein darf. Auch meine Mitarbeit im Büro von David Chipperfield am Wettbewerb für das Neue Museum auf der Berliner Museumsinsel prägte mich, da es beim Umbau nicht um Kontraste, sondern eine Übersetzung ging.
AS: Warum verunglimpfen Politiker das Musée Kanal als Symbol für eine fehlgeleitete Kulturpolitik, die Gelder in französische Museen steckt, anstatt die Jugend des Viertels Molenbeek zu fördern?
AF: Das Budget beträgt 125 Millionen Euro, deshalb erregt das Projekt sehr viel Aufmerksamkeit. Zudem ist die kulturelle Landschaft Belgiens sehr kompliziert, es gibt mehrere Sprachen und eine regionale und nationale Agenda. Ursprünglich sollte die Kunstsammlung aus dem Nationalmuseum ausgestellt werden, aber da es sich um ein Brüsseler Projekt handelt, wurde anders entschieden, so dass es zu dieser temporären Kollaboration kam. Es gibt Akteure, die sich gewünscht hätten, diese würde auch andere europäische Länder berücksichtigen. Bezüglich des angrenzenden Stadtviertels Molenbeek wird auch die Zusammenarbeit unterschlagen, die das Musée Kanal mit vielen Organisationen eingegangen ist, um eine optimale Infrastruktur zu etablieren, die Schulen einzubeziehen und diverse Vereine aus dem Quartier. Es wird keine Bildungsanstalt, sondern ein Ort des kulturellen Austausches.
AS: Spätestens seit den Unruhen in Paris im Jahr 2005 wird die Architektur wie ein politischer Akteur zur Verantwortung gezogen: Sozialbauten am Stadtrand, die sogenannte Banlieue, und ein Stadtviertel wie Molenbeek stehen auf der Anklagebank. Warum gibt es das nicht in der Schweiz?
AF: Ich kenne mich besser in Brüssel aus, da ich in Kuregem, direkt neben dem alten Stadtkern von Molenbeek, wohne und meine Kinder hier zur Schule gehen, aber vielleicht schaffe ich ja einen gedanklichen Rundgang . . . Dies war einst das Zentrum des Fleischmarkts von Brüssel, ein florierender Stadtteil. Soweit ich mich erinnere, gab es dann jedoch Pläne für eine neue Schnellstrasse, so dass viele Bewohner ihre Häuser und Lagerhallen verkauften, die viele Neuankömmlinge anzogen und die in der Folge als Umschlagplatz für den Kauf und Verkauf von Autos aus ganz Europa verwendet wurden. Für Politiker war diese Welt uninteressant, weil kaum ein Bewohner das Recht hatte, zu wählen. Es ist also kein architektonisches, sondern ein politisches Versäumnis, dass sich Subkulturen entwickelt haben. Die Schweiz ist so exklusiv, ich weiss, dass es einen hohen Ausländeranteil gibt, aber soziale Unterschiede sehe ich nicht. Ich versuche auch immer noch zu verstehen, warum es, etwa da, wo ich in Zürich wohne, in der Nähe des Escher-Wyss-Platzes, so wenig urbane Reibung gibt. Alles steht nebeneinander, aber es ist, als ob es sich um Fragmente handelt, die einander fremd sind.
AS: Als Architektin arbeiten Sie mit dem kulturellen Gedächtnis eines Ortes: Sie interessiert der Bestand. In Luzern gewann Ihr Büro nun einen Wettbewerb für einen neuen Wohnungsbau.
AF: Wir sind sehr glücklich darüber, dass wir in der Schweiz bauen dürfen! Ehrlich. Die Budgets sind hier nicht nur viel höher, die Schweiz ist die Referenz für interessante zeitgenössische Architektur. Als ich mich bei der ETH für die Professur vorgestellt habe, wurde ich im Interview auch gefragt, wie ich mit einem Bauvorhaben in der Schweiz umginge. Man war sich einig, dass es ja sehr leicht sei, in einem reichen kulturellen Umfeld wie in Belgien schöne Häuser zu bauen, aber nicht in der hiesigen Agglomeration. Ich habe überhaupt nicht verstanden, worauf sie anspielten. Belgien wird schliesslich mitunter als hässlichstes Land Europas bezeichnet. Je besser ich die Schweiz kennenlerne, desto mehr realisiere ich aber, dass es zwar viel Mühe kostet, in einer verschandelten Gegend Belgiens eine Qualität zu entdecken, dass aber jeder Quadratmeter eine Geschichte aufweist, mit der wir arbeiten können. In der Schweiz sind Gebäude viel isolierter, in der Nähe meiner Wohnung gibt es einen Bücherladen mit Café, Kunstgalerien, eine neu erschlossene Giessereihalle, eine Autowaschanlage, Büros, einen Baumarkt, einen grossen leeren Platz, also eigentlich eine aufregende urbane Situationen, aber es ist, als verbinde sie kein Leben. Es ist wichtig, dass Gebäude eine Erzählung aufweisen, zu der man als Mensch eine Beziehung aufbauen kann. Darauf kommt es uns immer an.
Seit einem Jahr arbeitet die Architektin An Fonteyne, geboren 1971 in Ostende, als Professorin für Architektur und Entwurf an der ETH Zürich. Ihr eigenes Büro noAarchitecten mit Sitz in Brüssel und Brügge, das sie 1999 gemeinsam mit Jitse van den Berg und Philippe Viérin gründete, steht vor allem für die Arbeit mit dem architektonischen Bestand wie Kasernen, Kirchen oder Hafenanlagen. Für die Umbau- und Sanierungsmassnahmen bei einer ruinösen Fabrik in Aarschot aus dem 16. Jahrhundert gewann das Büro zahlreiche Preise. Gegenwärtig konzipiert es den Umbau der Brüsseler Werkhalle von Citroën in das Musée Kanal sowie neue Wohnungsbauten in Luzern.