Essen wegwerfen ist ein vierfacher Irrsinn
19.03.2013 von
Unser Hunger belastet die Umwelt stark. Gleichzeitig leidet fast die Hälfte der Menschen an einem Mangel an gesunden Lebensmitteln. Und eine halbe Milliarde Menschen ist übergewichtig oder fettleibig. Eine dramatische Notsituation mit globalem Ausmass. Wie kommt es dazu?
Gemäss UNO leidet jeder siebte Mensch auf diesem Planeten unter «permanent schwerster Unterernährung». Weitere zwei Siebtel aller Menschen nehmen zwar genügend Kalorien zu sich, wegen einseitiger Ernährung aber nicht genügend lebenswichtige Nährstoffe. Fast die Hälfte aller Menschen leidet also unter einem Mangel an gesunden Lebensmitteln. Gleichzeitig ist in den Industriestaaten eine halbe Milliarde Menschen übergewichtig oder fettleibig und setzt sich somit zusätzlichen Krankheitsrisiken aus. Wer sich also gesund ernährt oder ernähren kann, ist in der Minderheit.
Die Schere von Arm und Reich
Der Ursprung der schlechten Verteilung der Lebensmittel liegt in der klaffend weit geöffneten Schere zwischen Arm und Reich. Während gemäss Schätzung der Weltbank über eine Milliarde Menschen weniger als einen Dollar pro Tag zur Verfügung hat, können wir uns im Westen bestens leisten, mehr Lebensmittel zu kaufen als wir brauchen. Dank Massenproduktion, Importen aus Billiglohnländern sowie massiven staatlichen Subventionen geben wir nur noch sieben Prozent unseres Budgets für Lebensmittel aus. Kein Wunder also, dass wir die Wertschätzung für unsere Lebensmittel verlieren und jedes fünfte gekaufte Lebensmittel im Müll wieder entsorgen.
Die Verschwendung hat sich in unser System «eingefressen»
Der Verschwendungswahnsinn ist nicht mehr auf einzelne Akteure beschränkt: Er hat sich als Folge des Überflusses ausgeweitet und prägt nun unsere gesamte Lebensmittelkette. Die reicheren Staaten können es sich leisten, Lebensmittel beliebig zu importieren, bis alle Regale in den Läden dauernd voll sind.
Als Folge sind wir Konsumenten immer anspruchsvoller und wählerischer geworden. Zum Beispiel haben wir immer zuerst die makellosen Äpfel aus den Regalen genommen – bis die Detailhändler begonnen haben, nur noch diese allerbeliebtesten Waren in die Regale zu stellen. Bevor ein Apfel heute im Regal des Grosshandels landet, wird mit Hilfe von 50 Fotos elektronisch untersucht, ob er auch wirklich die Anforderungen erfüllt.
Ein Drittel aller Lebensmittel gehen zwischen Feld und Teller verloren
Wir können aber die Natur nicht beliebig nach unseren Wünschen erziehen. Wir erkaufen uns den höheren Ertrag an ästhetisch «normgerechten» Waren mit giftigem Pestizideinsatz und zusätzlicher Umweltbelastung. Andererseits wird bei Produktion und Handel bereits alles aussortiert, was nicht den Normen entspricht und daher schlechter verkauft werden könnte.
Gemäss unserer neusten Schätzung an der ETH Zürich gehen vom Feld bis auf den Teller in der Schweiz ein Drittel aller Lebensmittel verloren, vielleicht sogar mehr.
Ökologischer, wirtschaftlicher, ethischer und sozialer Irrsinn
Um die Lebensmittel zu produzieren, welche wir in der Schweiz jährlich wegwerfen, verursachen wir gleichviel Treibhausgase wie eine bis zwei Millionen Autos, die ein ganzes Jahr herumfahren. Zudem verbrauchen wir Landwirtschaftsland im In- und Ausland, hinterlassen Dünger und Pestizide in der Umwelt und belasten damit die Gewässer. In vielen Anbaugebieten unserer Importländer herrscht zudem Wasserknappheit. Überdimensionierte Bewässerungssysteme haben weitreichende und teils unumkehrbare Folgen für die lokale Bevölkerung und die betroffenen Ökosysteme. Rund einen Drittel aller weltweiten Umweltbelastungen verursachen wir damit, unseren Hunger zu stillen.
Neben diesen ökologischen Aspekten ist es ein wirtschaftlicher Unsinn, so viele Lebensmittel wegzuwerfen. Wir investieren in der Schweiz mehrere Milliarden Franken in die Produktion von Lebensmitteln, die im Müll landen. Eine Summe, mit der wir viele andere Probleme lösen könnten.
Schliesslich verdienen unsere Lebensmittel wieder mehr Wertschätzung. Leute und Nutztiere haben sehr viel Zeit und Arbeit in die Produktion, die Verarbeitung und den Transport investiert. Es ist asozial, wenn wir die Produkte aus Bequemlichkeit einfach wegwerfen. Es ist auch ethisch absolut verwerflich, wenn wir bedenken, dass eine gesteigerte Nachfrage nach Lebensmitteln in den reichen Ländern die Weltmarktpreise in die Höhe treibt und so den Ärmsten dieser Welt den Zugang zu ausreichender Nahrung erschwert.
Es ist also ein ökologisch, wirtschaftlich, sozial und ethisch vierfacher Irrsinn, wenn wir ein Brötchen am zweiten Tag wegwerfen.
Übrigens: Ein leicht befeuchtetes und kurz aufgebackenes Brötchen schmeckt oft besser als ein frisches. Und somit wird der Verzicht auf übermässigen Konsum zu einem Gewinn an Lebensqualität.

Was nicht verkauft wird, landet meist im Abfall.
Claudio Beretta schloss seinen Master in Umweltnaturwissenschaften ab mit Schwerpunkten in Wald- und Landschaftsmanagement, nachhaltigen Energiesystemen und Lebensmittelverschwendung. Er arbeitet am Institut für Umweltentscheidungen der ETH Zürich, wo er im Sommer seine Doktorarbeit beginnen wird. Persönliches Zitat und Biografie
Kommentare (11) >Alle Kommentare aufklappen>Alle Kommentare zuklappen
@Kommentar von Ben Palmer. 29.06.2013, 15:18
Sehr geerhter Herr Palmer,
Sie ziehen eine voreilige Schlussfolgerung aus einer richtigen Überlegungen, wenn sie schreiben: „Irgendeinmal übersteigt die lokale Nachfrage nach Nahrungsmitteln das lokale Angebot der Natur. Dort wo dieses Phänomen auftritt, ist wohl die maximal ertragbare Bevölkerungsdichte überschritten.“
Das lokale Angebot der Natur musste bis vor kurzem tatsächlich die lokalen Bedürfnisse abdecken. Doch heute gibt es viele Länder, die einen Grossteil der Nahrungsmittel importieren und die das mit Exporten anderer Güter kompensieren können. Ein paar Beispiele: Aegypten importiert heute die Hälfte des Getreides und bei einem Bevölkerungswachstum von 2% pro Jahr wird es im Jahr 2050 wird es 123 Millionen Ägypter geben, 40 Millionen mehr als heute. Nicht Ägyptens Landwirtschaft muss nun zwingend wachsen (kann sie nur noch beschränkt) sondern Ägypten Wirtschaft an und für sich. Denn es gibt immer noch riesige agrarische Potenziale z.B. in Russland und die Russen werden ihr Getreide gern nach Ägypten verkaufen, wenn es dort kaufkräftige Abnehmer gibt. Nahrungsmittel sind somit heute käufliche Güter wie andere auch.
Viele Länder der arabischen Halbinsel wie Saudiarabien, Oman oder die Emirate importieren das meiste Getreide und das ist angesichts des dortigen Wassermangels das einzig richtige. Und Saudiarabien oder die VAR können sich diese Importe auch leisten.
Die Alternative zu Nahrung gegen Geld ist die sogenannte Subsistenzwirtschaft, also die Eigenversorgung mit Nahrungsmitteln durch Anbau auf dem eigenen Land. Doch die Subsistenzwirtschaft ist meist sehr unproduktiv und mitverantwortlich für die tiefen Flächenerträge in vielen afrikanischen Ländern. Zudem leben diese Leute von der Hand in den Mund und Missernten führen dort zu Hunger.
@Holzherr: „Hunger ist meist ein Zeichen von Extremarmut.“
Hunger ist einzig und allein ein Zeichen von Mangel an Nahrungsmitteln. Und vielleicht ist es auch umgekehrt: Armut ist meist eine Folge (nicht nur ein Zeichen! Assoziation und Kausalität sind zwei Paar unterschiedliche Stiefel) von Hunger. Wer Hunger hat, schert sich einen Teufel um Reichtum; siehe pawlowsche Pyramide). Wer in einer Gegend lebt, in der die Selbstversorgung nicht möglich ist, weil die Natur es nicht erlaubt, muss die Möglichkeit haben, Tauschmittel (Geld, Güter) zu erarbeiten, um die Versorgung auf anderem Wege sicherzustellen. Leider sind diese Versorgungsmöglichkeiten in der Natur auf unserem Planeten, ungleich verteilt.
Irgendeinmal übersteigt die lokale Nachfrage nach Nahrungsmitteln das lokale Angebot der Natur. Dort wo dieses Phänomen auftritt, ist wohl die maximal ertragbare Bevölkerungsdichte überschritten. Und wenn die Weltbevölkerung weiterhin zunimmt, wird das auch einmal auf globaler Ebene der Fall sein.
Bisher waren nichthungernde Menschen in der Lage, mehr Lebensmittel zu produzieren und mehr Menschen zu versorgen, als die Natur lokal erlaubt.
@Kommentar von Ben Palmer. 27.06.2013, 9:36
Die Frage „Woher nehmen Sie die Gewissheit, dass 50 kg [Fleischverzehr pro Jahr] das richtige Mass ist?“ ist berechtigt, denn Gewissheiten gibt es auf vielen Gebieten nicht. So kann man zuviel an der Sonne liegen, doch auch zuwenig Sonne schadet. Weniger Fleischkonsum als heute in Europa und den USA üblich scheint aber viele Vorteile sowhl für jeden Einzelnen als auch für die Umwelt zu haben. Anstatt Zwänge braucht es einen sanften Druck in diese Richtung.
@Kommentar von Ben Palmer. 27.06.2013, 10:26
Heute bestimmt weitgehend der Mensch und Menschen ob und wieviele Menschen hungern und die Nahrungsmittel muss man auch nicht mehr zwingend dort anbauen, wo man lebt, denn der Welthandel hat inzwischen eine grosse Bedeutung erhalten.
Sie schreiben ironisch „das Ende des Welthungers ist so nah“ obwohl dieser Satz sogar zutrifft: Heute gibt es noch 870 Millionen Hungernde, doch 1990 waren es noch 1 Milliarde. Hunger ist meist ein Zeichen von Extremarmut. Und diese geht rapide zurück. Am optimistischsten ist hier wohl der Brookings-Bericht Poverty in Numbers: The Changing State of Global Poverty from 2005 to 2015. In der Figur 1 erkennt man, dass die Armutsrate, definiert als Prozentsatz der Menschen, die mit weniger als 1.25 US-Dollar pro Tag auskommen müssen von 50% 1981 auf 15% 2012 abgenommen hat und dass sie schon im Jahr 2015 10% unterschreiten könnte womit dann 2015 weniger als 700’000 in extremer Armut leben würden. Bis 2030 kann es durchaus weniger als 5% Extremarme geben, womit dann auch Hunger nur noch für 5% der Menschen ein Begleiter ihres Lebens wäre.
„Der Ursprung der schlechten Verteilung der Lebensmittel liegt in der klaffend weit geöffneten Schere zwischen Arm und Reich.“
So einfach ist das!?
Die Natur hat andere Regeln: Flora und Fauna (inkl. homo sapiens) gedeihen dort, wo Nahrung vorhanden ist. Die Natur verteilt keine Lebensmittel. Wer/was keine Nahrung findet, mutiert, siedelt um oder stirbt aus.
Völker, die in ariden Zonen wohnen, sind notgedrungen in ihrer Expansion beschränkt. Warum wohl haben sich die Menschen schon in Urzeiten in Gebieten mit gemässigtem Klima angesiedelt? Erst die Mechanisierung und Industrialisierung der Landwirtschaft hat es ermöglicht, auch Menschen zu ernähren, die aus geologischen und klimatischen Gründen nicht selbst ausreichend Lebensmittel produzieren können.
Wenn in Wüstengebieten oder auf Gletschern keine Äpfel (oder Weizen) gedeihen, müssen diese Äpfel aus gemässigteren Gebieten kommen. Irgend jemand muss dort diese Äpfel pflücken und verteilen, eventuell sogar Apfelbäume anpflanzen.
Wer selbst an Hunger leidet, wird kaum dazu bereit sein, denn er muss seine ganze Zeit und Energie in seinen eigenen Lebensunterhalt investieren. Nur wer mehr Zeit und Energie hat, als er für seinen eigenen vitalen Lebensunterhalt braucht, kann im Überschuss produzieren und damit weitere Menschen versorgen.
Alle Korrespondenten in diesem Blog, alle seine Betreiber und Betreuer, alle Betreiber des World Wide Webs, alle Entwickler und Produzenten der dazugehörigen Hardware und Software haben offensichtlich mehr Zeit zur Verfügung, als sie für ihren vitalen Lebensunterhalt benötigen. Diese Zeit wäre besser investiert in das Pflücken und weltweite Verteilen von Äpfeln, auch wurmstichigen! Worauf warten wir noch, das Ende des Welthungers ist so nah!
@Holzherr: „Der neue Standard sollte ein Fleichkonsum nahe bei 50 kg/y sein so wie in Japan.“
Nach der 2000 Watt Gesellschaft, der 5 Liter Benzin Gesellschaft, der 5 Gemüse und Obst Gesellschaft, der 5 Gramm Salz Gesellschaft, der 25 BMI Gesellschaft, der 5 dl Limonade Gesellschaft jetzt also noch die 50 kg Fleisch Gesellschaft. Und das alles garniert mit einem Zertifikathandel oder Strafsteuern, ein Fressen für Umverteiler und Staatskassen!
Hand aufs Herz: Wissen Sie genau, wieviel Fleisch Sie persönlich konsumieren? Woher nehmen Sie die Gewissheit, dass 50 kg das richtige Mass ist?
In Ergänzung zum fleischkritischen Kommentar von Thomas Müller möchte ich auf die kulturellen Einflüsse bei der Fleischpräferenz und die globale Entwicklung beim Fleischkonsum hinweisen und auf den Zusammenhang zwischen Höhe des Fleischkonsums und Adipositas.
In der ETH-Präsentation Was isst die Welt zeigt die Folie 14 „Jährlicher Fleischkonsum weltweit“, dass beide Amerikas, Australien und Europa die Hauptfleischkonsumenten sind mit im Durchschnitt deutlich mehr als 70 kg Fleisch pro Kopf und Jahr. Zugleich sind das auch die Kontinente mit der höchsten Kalorienzufuhr pro Person. Teilweise ist diese Fleischpräferenz Ausdruck des höheren Lebensstandards (weswegen in Ländern wie China der Fleischkonsum auch rapid zunimmt), teilweise ist sie jedoch kulturell bedingt, was wohl die über 100 kg Fleisch pro Person und Jahr in den USA, Argentinien, Spanien und Australien erklärt. In Europa ist in den letzten 20 Jahren der Fleischkonsum leicht zurückgegangen, in den USA hat er weiter zugenommen.
Es gibt einige Studien, die einen Zusammenhang zwischen hohem Fleischkonsum und Übergewicht, feststellen, z.B. Meat consumption is associated with obesity and central obesity among US adults wo man liest:
„Considerable differences existed in MC [meat consumption] across sociodemographic groups among US adults. Those who consumed more meat had a much higher daily total energy intake, for example, those in the upper vs bottom quintiles consumed around 700 more kcal day“.
Grund für das Übergewicht bei hohem Fleischkonsum scheint die grosse Kalorienaufnahme durch schon relativ wenig Fleisch zu sein.
Völligen Fleischverzicht zu fordern ist wohl kontraproduktiv, da damit nur wenige erreicht werden. Der neue Standard sollte ein Fleichkonsum nahe bei 50 kg/y sein so wie in Japan. Nur 3% der Japaner sind adipös (USA 30%)
Leider wurde noch nicht darauf hingewiesen: Die allergrösste Verschwendung von Ressourcen und Lebensmitteln geht auf das Konto des übermässigen und für eine gesunde Nährstoffversorgung absolut unnötigen Fleischgenusses v.a der westlichen Länder. Die Produktion von 1kg Rindfleisch verbraucht ca 10 kg Getreide. Auf derselben Fläche die 1kg Rindfleisch erfordert liessen sich das 100-fache (!) an Kartoffeln oder das 200fache (!!) an Tomaten anbauen. Würde jeder Schweizer jede 2. Fleischmahlzeit durch eine vegetarische ersetzen könnten wir die Produktion im Inland sicherstellen und der faktische Landraub in den südlichen Ländern (Bsp Brasilien) durch in die Schweiz importierten Futtersoja mit allen seinen fürchterlichen Konsequenzen (Abholzung der Regenwälder, Zerstörung der bäuerliichen Kultur und damit der Eigenversorgung der südlichen Länder = Verknappung und verteuerung der dortigen Lebensmittel = Hunger und Armut, Krebs und missgebildete Kinder in den durch Agrochemikalien verseuchten Futtersoja-Anbaugebieten in Brasilien). Wer täglich Fleisch isst versündigt sich an diesem Planeten und seinen eigenen Nachkommen. Wir alle können durch unser Konsumverhalten täglich Macht ausüben und entscheiden ob wir die Welt zerstören oder gute Entwicklungen fördern wollen (z.B. durch Einkauf von fair produzierten und ökologisch zertifizierten Produkten und Dienstleistungen wie z.B. Max Havelaar, Bio-Knospe beachten, Bankgeschäfte bei Geldinstituten ohne fragwürdige Investmentbanking-geschäfte, z.B. Raiffeisen, etc. )
Halbiere Deinen Fleischkonsum oder werde Vegetarier. Das mag zuerst nach Verzicht aussehen. Ich habe aber die Erfahrung gemacht: Wer sich mit der vegetarischen Esskultur auseinandersetzt, wird bereichert, und zudem verbessern sich Wohlbefinden und Leistungsfähigkeit. Viele der verbreiteten chronischen Leiden lassen sich mit pflanzlicher Kost beseitigen. Schon Einstein wusste: Reduktion des Fleischkonsums ist der wichtigste Faktor für das Überleben auf diesem Planeten!
„Andererseits wird bei Produktion und Handel bereits alles aussortiert, was nicht den Normen entspricht und daher schlechter verkauft werden könnte.“
Herr Beretta, sie haben sicher Recht, aber Hand aufs Herz: Wenn Sie vor dem Gemüse- oder Obstregal im Laden stehen und sich selbst Obst und Gemüse aussuchen können, wählen Sie dann bewusst fleckige Äpfel oder von Schnecken angefressenes Gemüse, oder lassen Sie das für den Nächsten liegen?
Wir haben einen Garten mit Obstbäumen und einigen Gemüsen. Soviele Quitten, wie da wachsen, können wir gar nicht essen, zudem sind viele von einer typischen Krankheit befallen (dagegen gibt es allerdings chemische Produkte …). Salat mit braunen Blättern werfen wir weg. Sind wir Verschwender?
Herr Holzherr, der einzige Nahrungsmittelproduzent für Mensch und Tier ist die Natur. Und die Natur produziert im Überschuss, zumindest in den „fruchtbaren“ Gegenden auf unserem Planeten. Und die Menschen waren und sind in der Lage, diese Fruchtbarkeit zu erhöhen, so dass mittlerweile mehrere Milliarden Menschen sich ernähren können.
Das Recht auf „angemessene Ernährung“ (wie das „Recht auf Leben“) müsste man also bei der Natur einfordern. Aber die Natur richtet sich nicht nach frommen Wünschen; in polaren Eiswüsten und ariden Wüstengebieten ist ausreichend Nahrung schwer zu finden. Ohne intensive Bewirtschaftung (mit viel Energie) ist selbst in gemässigten Breiten die Nachfrage nicht zu bewältigen. Die Menschheit hat also sehr viel dazu beigetragen, dass viele und immer mehr Artgenossen angemessen ernährt werden können.
Die ungleichmässige Verfügbarkeit von Nahrungsmitteln ist in erster Linie eine Folge der natürlichen Verteilung von fruchtbaren Zonen und der Besiedelungsstruktur der Erde. Mit arm und reich im finanziellen Sinn hat das nichts zu tun. Wir Menschen, die im gemässigten Klima leben, sind „reich“, weil Nahrungsbeschaffung nicht unsere Hauptbeschäftigung ist. Wir haben darüber hinaus ausreichend Zeit, um z.B. unsere Lebensbedingungen zu verbessern oder neue Methoden zu erfinden und umzusetzen, um unsere Produktivität zu erhöhen.
Was das „Recht auf angemessene Ernährung“ betrifft: http://philosophiebuero.wordpress.com/2011/10/13/negatives-recht-und-positives-recht/
Essen ist ein Grundbedürfnis und Hunger aus Armut bedeutet, dass dieses Grundbedürfnis nicht erfüllt wird und somit das Menschenrecht auf angemessene Ernährung als Teil des Rechts auf angemessenen Lebensstandard (Artikel 11, Absatz 1 des UN-Sozialpakts) nicht gewährt ist.
Nahrungsmittel können aber auch als käufliche Güter wie alle andern betrachtet werden. So gesehen sind auch weggeworfene Kleider oder in den Müll geworfene, aber noch funktionierende Mobiltelefone eine Ungerechtigkeit und eine Missachtung der Armut anderer, denn mit dem Gegenwert könnten unter anderem auch Nahrungsmittel für Hungernde gekauft werden.
Eine besondere Rolle haben Nahrungsmittel aber durch den hohen Ressourcenbedarf der Nahrungsmittelproduktion.
Dazu gehören die für den Nahrungsmittelanbau nötigen Landflächen und die fossilen Rohstoffe für die Landwirtschaftsmaschinen und den Transport. Hier zeigt sich ein Paradox: Berücksichtigt man die Endlichkeit der agrarisch nutzbaren Anbauflächen und den wachsenden Bedarf nach mehr Land durch Landwirtschaft, Urbanisierung und Energieerzeugung (Biotreibstoffe), so ist Boden heute im globalen Durchschnitt zu billig. Andererseits würde ein durch diese Überlegung gerechtfertigter Anstieg der Bodenpreise die Nahrungsmittel verteuern und damit das Schicksal der Menschen, die auf billige Nahrungsmittel angewiesen sind, verschlimmern.
Wie könnte man das Problem lösen, dass die Verschwendung der Reichen die Armut vieler Menschen verschlimmert? Eine Ausdehung des europäischen Sozialstaatgedankens auf die gesamte Welt wäre ein möglicher Ansatz: Zuerst müssten die Grundbedürfnisse für alle Menschen unabhängig davon wo sie leben, befriedigt werden, erst dann kämen die Luxusbedürfnisse der Reichen zum Zug.
Sehr geehrter Herr Beretta,
Sie beschreiben in diesem Beitrag Ungerechtigkeiten, Gedankenlosigkeit, Anspruchshaltung, Verschwendung und Fehlverhalten das es auch schon vor 10 oder 50 Jahren gegeben hat und das es wahrscheinlich auch noch in weiteren 10 oder 20 Jahren geben wird.
Und diese Gegensätze, die die einen hungern, die andern aber Lebensmittel verschwenden lassen, sind nicht einmal auf gänzlich verschiedene Weltgegenden verteilt: Zwar stimmt es, dass es im Westen Hunger aus Armut praktisch nicht gibt, aber in Indien finden sie Wohlstand und Hunger Tür an Tür.
Die Beseitigung von Verschwendung hier in der Schweiz bedeutet nicht unbedingt, dass es den Hungernden in Indien oder Bangladesh besser geht. Das wirksamste Mittel gegen Hunger scheint die Überwindung von Armut zu sein. Wer genug Geld hat kann sich Nahrungsmittel kaufen, wem das Geld aber fehlt, der ist auf Nahrungsmittelhilfen und die Nachsicht der Mächtigen angewiesen. Dieser Zusammenhang wird auch in ihrem Artikel herausgestellt (Zitat): „Der Ursprung der schlechten Verteilung der Lebensmittel liegt in der klaffend weit geöffneten Schere zwischen Arm und Reich. Während gemäss Schätzung der Weltbank über eine Milliarde Menschen weniger als einen Dollar pro Tag zur Verfügung hat, ….“
Das Weltwirtschaftswachstum von 4% pro Jahr, das nun seit ein paar Jahrzehnten deutlich über dem Bevölkerungswachstum liegt, wird früher oder später extreme Armut zurückdrängen und damit auch den Hunger beseitigen. Allerdings hat das globale Wachstum auch seine Schattenseiten, führt es doch zu mehr Umweltbelastung, zu mehr Emissionen von Treibhausgasen und anderen Giften und zu mehr Ressourcenbeanspruchung (Land, Metalle, fossile Rohstoffe). Weniger Ressourcenbeanspruchung und dafür mehr Verteilgungsgerechtigkeit wäre für die Umwelt tatsächlich besser. Leider ist das eine ziemlich utopische Idee.
Essen wird wohl weiterhin weggeworfen und die Armen leben weiterhin von den Brosamen der Reichen.
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