Auch nach Rio+20 gilt: «Global denken, lokal handeln»
23.06.2012 von
Es ist der 21. Juni 2012, 15 Uhr, Eugene/Oregon im Norden der USA. Gestern durfte ich im Namen der ETH Zürich den «ISCN-Award» entgegen nehmen – eine Auszeichnung, die unseren Weg zu einer fossilfreien Zukunft auf dem Campus Hönggerberg würdigt. Während ich diese Zeilen schreibe, verhandeln mehr als 100 Staats- und Regierungschefs über den Abschlusstext des UNO-Gipfels Rio+20 zur nachhaltigen Entwicklung. Dieser wird gut 50 Seiten umfassen und eine Vielzahl von Deklarationen und Bekenntnissen zur Ökologie und Armutsbekämpfung enthalten. Die Frage, die ich mir während der letzten Tage immer wieder stellte, ist: Sind wir mit dem Konzept grosser, medienwirksamer Konferenzen auf dem richtigen Weg Richtung Nachhaltigkeit oder braucht es neue, wirksamere Schritte?
Eugene Oregon statt Rio de Janeiro
Anstatt nach Rio de Janeiro zu reisen, vertrat ich die ETH Zürich bis heute Nachmittag und während drei Tagen an der Jahreskonferenz des Internationalen Netzwerks für einen nachhaltigen Campus (ISCN). Über 30 führende Hochschulen haben sich diesem Netzwerk inzwischen angeschlossen. Neben der ETH Zürich und der EPFL finden sich darunter Universitäten wie Harvard, Yale oder Tokyo University, das Indian Institute of Technology in Madras oder die Universität von Peking.
Im Gegensatz zum grossen Erdgipfel in Rio stand auf unserem kleinen Campusgipfel der konkrete Austausch praktischer Erfahrungen im Vordergrund, um das Leben, Lernen und Forschen auf unseren vielfältigen Campusgeländen nachhaltiger zu gestalten. Trotz des breiten kulturellen und ökonomischen Spektrums der Herkunftsländer der teilnehmenden Universitäten, verband uns die Motivation, Nachhaltigkeit nicht nur zu predigen, sondern auch in unseren Alltag zu integrieren. Was uns ebenso verband ist die Erkenntnis, dass viele grosse Herausforderungen noch vor uns liegen und Handeln dringender erforderlich ist denn je.
Lokal handeln in globalen Netzwerken
Unsere chinesischen Kollegen berichteten beispielsweise von Wachstumszahlen, die mich aufhorchen liessen: Zwischen 1998 und 2010 stiegen die Studierendenzahlen in China von 3 Millionen auf 22 Millionen. Die Anzahl chinesischer Universitäten hat sich innerhalb derselben 12 Jahre von 1020 auf 2400 mehr als verdoppelt. Es braucht nicht viel Vorstellungskraft, um zu begreifen, dass die Herausforderungen für die chinesischen Campusanlagen bezüglich Nachhaltigkeit weltweit zu den grössten gehören. Dies betrifft die Qualität des Lehrangebots ebenso wie praktische Aspekte der Umsetzung, wenn es beispielsweise um zusätzlichen Landverbrauch geht, eine nachhaltige Wasser- und Energieversorgung oder die Integration ganzer Universitätsstädte in gewachsene Sozialstrukturen.
Anbetracht der zum Teil gigantischen Herausforderungen war für mich insbesondere der praktische Austausch über Lösungsansätze und «Best-Practice»-Beispiele wertvoll. Unsere Universitäten tragen eine besondere Verantwortung in Bezug auf nachhaltige Entwicklung. Nicht nur in der Ausbildung junger engagierter Menschen, sondern auch in der Umsetzung unserer Werte auf dem eigenen Campus. In diesem Sinn stimmte mich die Erfahrung der letzten Tage positiv.
Entkarbonisierung: Beitrag der ETH Zürich
Insbesondere freute mich, dass die ETH Zürich für ihr Energiekonzept auf dem Hönggerberg den diesjährigen ISCN-Award in der Kategorie «exemplarische Bauprojekte» gewann (siehe Abbildung 1 und ETH-Life-Artikel «Erdspeicher in Betrieb genommen» vom 21.6.2012). Mit Hilfe des neuen dynamischen Erdspeichersystems werden wir unsere CO₂-Emissionen auf dem «Science City»-Campus bis zum Jahr 2020 um die Hälfte reduzieren können. Nach Projektabschluss im Jahr 2025 werden die Gebäude auf dem Hönggerberg vollständig auf fossile Brennstoffe verzichten können (siehe Abbildung 2).
Dies sind praktische Ergebnisse, die sowohl innerhalb der Schweiz als auch international richtungsweisend sind. Mit der Umsetzung dieses Projekts demonstriert unsere Hochschule zum einen, dass wir hinsichtlich der Entkarbonisierung unserer Gesellschaft bereits jetzt weit mehr erreichen könnten, als gemeinhin bekannt ist. Zum anderen zeigt insbesondere unsere Schulleitung, dass es wichtig ist, im Sinn der Nachhaltigkeit langfristig zu denken und zu handeln: Mit einem zusätzlichen Investitionsvolumen von 17 Millionen Franken und erwarteten Einsparkosten von jährlich einer Million Franken wird sich dieses Projekt finanziell erst in zwei bis drei präsidialen Generationen rechnen. Es wäre wünschenswert, dass auch andere Entscheidungstragende den Mut aufbringen, über ihre Amtsperiode hinaus ein nachhaltiges Zeichen zu setzen.
Der Wert geteilten Wissens
In diesem Sinne verstehe ich auch den Wert des «ISCN-Awards», der im Gegensatz zu anderen Preisen nicht mit hohen Fördergeldern verbunden ist. Der wahre Wert dieses Preises besteht darin, positive Spuren in einem internationalen Netzwerk hinterlassen zu dürfen. Wenn unser Wissen und unsere Erfahrung als «Open-Source»-Inspiration weltweite Nachahmung finden, so hat sich unsere Arbeit bereits heute gelohnt. Die Anfragen, die ich zum Anergie-Prinzip1 des Erdspeichers erhielt, stimmten mich in dieser Hinsicht positiv.
In Rio werden im Moment gut 50 Seiten der Abschlussdeklaration fertiggestellt. Auf dem Hönggerberg haben 230 Erdsonden bereits im April ihren Betrieb aufgenommen. Ich wünschte mir, dass heute Nacht auch auf globaler Ebene einige wegweisende Projekte ihren Anstoss zur Umsetzung finden. 20 Jahre nach dem ersten Erdgipfel in Rio geht es nach wie vor darum, global zu denken, um endlich lokal zu handeln.
1Das System des dynamischen Erdspeichers wird auch als «Anergie-Netz» bezeichnet, weil ein maximaler Anteil des Energiebedarfs durch Anergie (niederwertige Energie) gedeckt wird.

Abbildung 1: Dynamisches Erdspeichersystems auf dem «Science City»-Campus Hönggerberg der ETH Zürich

Abbildung 2: CO2-Emissionen des «Science City»-Campus Hönggerberg
Die Anerkennung für das Projekt «Erdspeicher» gebührt innerhalb der ETH Zürich den Teams der Abteilungen Bauten und Betrieb der ETH-Immobilien, dem Umweltteam des Stabs Sicherheit, Gesundheit, Umwelt (SGU) und dem Team von Prof. Hansjürg Leibundgut. Die ETH Zürich hat bereits 2006 mit dem Aufbau des «Anergie-Netzes» auf dem Hochschulcampus Hönggerberg begonnen. Die Idee dazu entstand ursprünglich in einer Variantenstudie zur zukünftigen Energieversorgung des Areals Hönggerberg unter der Leitung von Amstein und Walthert (A&W). Die ETH Zürich hat diese Idee in enger Zusammenarbeit mit den Ingenieurbüros A&W und Lauber IWISA ständig weiterentwickelt, perfektioniert und zur Umsetzung gebracht. Daher gebührt die Anerkennung ebenso den Teams dieser beiden Büros.
Zur AutorinDr. Christine Bratrich ist Geschäftsführerin von ETH Sustainability, der Koordinationsstelle für Nachhaltigkeit der ETH Zürich.
Kommentare (6) >Alle Kommentare aufklappen>Alle Kommentare zuklappen
Sehr geehrte Herren Holzherr, Dittmar und Palmer
Vielen Dank für Ihre Kommentare, die inspirierend sind.
@Herr Holzherr: Danke für Ihre Gedanken zu Rio 1992 und Rio 2012, sie sind mir bewusst.
@Herr Dittmar: Der dynamische Erdspeicher auf dem Hönggerberg benutzt für den Verbund im Energiekanal, d.h. für die 3 zentralen grossen Ringleitungen, bereits bestehende Tunnelsysteme. Dies reduziert den Bauaufwand stark. Neuinstallationen konzentrieren sich primär auf den Bau der Sondenfelder inkl. Bohrungen (PE, Dauerhaftigkeit ca. 100 Jahre) sowie auf die technischen Anlagen in den Unterstationen (Wärmepumpen, Regeltechnik etc.).
Bezüglich Lebensdauer der Sonden: Diese müssen mindestens so lange halten wie die Gebäude selbst, da sie tlw unter den Gebäuden (HPL) verlegt und deshalb nicht mehr zugänglich sind.
@Herr Palmer: Ihre Kommentare sind hilfreich. Wenn Sie schreiben: „…oder wird das immer ein Traumkonzept bleiben, das sich nur der Staat leisten kann (Geld auszugeben ist ungemein leichter, wenn es das Geld der anderen ist)“, erstaunt mich Ihre Wortwahl hingegen.
Die Investitionen für dieses Projekt sind langfristig ausgerichtet und werden sich über einen Zeitraum von ca. 15-17 Jahren amortisieren. Danach führt das Projekt zu finanziellen Einsparungen. Bis zum Zeitpunkt der Amortisation spart die ETH Zürich aber bereits jetzt schon jährlich zwischen 4000t CO2 (aktuell) und über 10000t CO2 (nach Bauabschluss), im Vergleich zum „business as usual“ Szenario (s. Abb 2). Können Sie diesem Konzept etwas positives abgewinnen oder würden Sie vorschlagen, wir sollten das „business as usual“ Szenario weiterverfolgen, bei dem die Energie wie bisher aus fossilen Brennstoffen stammt?
Bezüglich Standardisierung des Konzepts möchte ich zu den Anmerkungen von Herrn Holzherr noch auf die Blogbeiträge von Herrn Leibundgut hinweisen, die in dieser Hinsicht sicherlich interessant sind: http://blogs.ethz.ch/klimablog/author/hleibund/
@Kommentar von Ben Palmer. 25.06.2012, 15:05
Sehr gut Herr Palmer,
sie schreiben: Wie gross sind die Chancen, dass das einmal Standard werden könnte für Industriebauten, Wohnsiedlungen und individuelle Wohnhäuser? Dass es Standard wird ist natürlich der Knackpunkt. Jeder soll später ja einmal in einem zero-emission-Gebäude leben.
Passivhäuser – nach Defintion Heizbedarf kleiner gleich 15 kWh/m^2 und Jahr – gibt es schon als Fertighäuser, z.B. hier. Ein Passivhaus braucht nur noch eine CO2-freie Heizung um emissionsfrei zu werden und bei dem geringen Heizbedarf ist das wohl realisierbar.
Grössere Gebäude sollten eigentlich mit der von Professor Leibundgut vorgeschlagenen saisonalen Wärmespeicherung 450 m unter der Erde – wie in Science City realisiert – auch kostengünstig realisierbar sein. Der Erdspeicher von Science-City ist ja ein First Of A Kind-Projekt. Wenn es für grössere Gebäudegruppen Standard wird, sollten die Kosten sinken.
Und um mit Michael Dittmar fortzufahren:
Wie gross sind die Chancen, dass das einmal Standard werden könnte für Industriebauten, Wohnsiedlungen und individuelle Wohnhäuser? Oder wird das immer ein Traumkonzept bleiben, das sich nur der Staat leisten kann (Geld auszugeben ist ungemein leichter, wenn es das Geld der anderen ist).
Interessanter Punkt Herr Palmer,
man koennte noch weiter fragen:
Was ist die Lebensdauer des Systems
und mit welchen nachhaltigen Materialien
aus der Schweiz (Kupfer zum Beispiel?)
wurde es gebaut..
michael
„Mit einem zusätzlichen Investitionsvolumen von 17 Millionen Franken und erwarteten Einsparkosten von jährlich einer Million Franken wird sich dieses Projekt finanziell erst in zwei bis drei präsidialen Generationen rechnen.“
Nun wäre es ja interessant zu erfahren, wieviel zusätzliche CO2-Emmissionen durch den aufwendigeren Bau angefallen sind und wie lange es dauert, bis dieses CO2-Kapital durch den Betrieb amortisiert ist.
Sehr geehrte Frau Dr. Btatrich,
Rio 1992 stand schwerpunktsmässig für den Schutz der Umwelt, was sich in der Rio-Erklärung über Umwelt und Entwicklung, einer Klimarahmenkonvention, den „Forest Principles“ und der Biodiversitäts-Konvention niederschlug.
Rio 1992 hatte also die Entwicklung der Menschheit in einer intakten Umwelt zum Ziel.
Das Ziel von Rio+20 ist stärker auf Entwicklung ausgerichtet (Hauptziel: Überwindung der Armut) und betont einen (Zitat) holistic, equitable and far-sighted approach to decision-making at all levels. Bei Rio+20 waren auch viele Vertreter einer green economy dabei, was positiv interpretiert ein Ankommen des Nachhaltigkeitsgedankens in der Zivilgesellschaft bedeutet.
Um Ziele wie den Klimaschutz wirksam werden zu lassen, braucht es das Lokale handeln in globalen Netzwerken: Lokale Erfolge wie die Entkarbonisierung des Gebäudeparks der Science City der ETH Zürich müssen also ausstrahlen in die ganze Welt, denn nicht nur die schweizerischen Campusanlagen müssen entkarbonisiert werden, sondern alle Campusanlagen aller Nationen. Und letztlich sogar der gesamte Weltgebäudepark.
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