Meerfahrt mit Thomas Mann

«Und er begann, während er neben mir ein Glas sorbetto schlürfte, zu erzählen, wie er diese Jahre verbracht hatte: Auf Reisen, immer auf Reisen.» (GKFA 2, 62). Diese Worte, aus der frühen Novelle Der Wille zum Glück (1896), könnten auch auf Thomas Mann selbst angewendet werden. Nicht nur sein politisches Exil, mit den Stationen Zürich, Princeton, Pacific Palisades und die Remigration nach Zürich, drängte ihn zwangsläufig zur Wanderschaft, auch zahlreiche Lesereisen im In- und Ausland prägten sein Leben. Nach der Beschlagnahmung seines Vermögens durch das nationalsozialistische Regime 1933 waren die Lesereisen eine wichtige Einkommensquelle, um sich das Leben im Exil zu finanzieren. Die zahlreichen Reisen, Kur- und Ferienaufenthalte sind durch den reichhaltigen Bestand an Fotografien im Thomas-Mann-Archiv der ETH Zürich gut dokumentiert.

Thomas Mann bei einem Ferienaufenthalt in Nida (Nidden), im heutigen Litauen, 07/1930, ETH-Bibliothek Zürich, Thomas-Mann-Archiv/ Fotograf*in: Fritz Krauskopf, Königsberg/ TMA_0196

Ob mit der Eisenbahn, dem Schiff und zuletzt sogar dem Flugzeug, Thomas Mann erlebte auf seinen Reisen den technologischen Fortschritt des Verkehrs hautnah mit.

Thomas und Katia Mann in ihrem Zugabteil bei der Abreise aus Köln. Aus dem Album von Heinz Hanke, 08/1954, ETH-Bibliothek Zürich, Thomas-Mann-Archiv/Fotograf*in: Heinz Hanke. TMA_AL4_6042

Im Jahr 1934 folgten Thomas und Katia Mann der Einladung des US-amerikanischen Verlegers Alfred Knopf nach New York, um dort mit zahlreichen Feierlichkeiten und Lesungen Thomas Manns 59. Geburtstag zu begehen. Die einzige Verbindung über den Atlantik war das Dampfschiff, das Thomas und Katia Mann am 20.5.1934 in Boulogne betraten. (Angereist waren sie mit dem Zug über Paris, was bereits zwei volle Tage in Anspruch nahm). In Zeiten von Massentourismus, Billigflügen und Last-Minute-Pauschalreisen, verströmen seine Reiseberichte über das Leben an Bord der Transatlantik-Dampfer für die modernen Leser*innen einen ganz eigenen Charme. Der Alltag an Bord verlief ruhig, die Passagiere hatten viel Zeit zum Lesen und Ausruhen.

Thomas Mann 1939 an Bord der «Île de France» auf der Rückkehr einer viermonatigen Vortragsreise durch die USA. 12/06/1939, ETH-Bibliothek Zürich, Thomas-Mann-Archiv/Fotograf*in: Unbekannt/ TMA_0523

Dabei mussten sich die Reisenden erst an die ständigen Bewegungen der See gewöhnen, was Thomas Mann zunächst nicht leichtfiel: «Sehr eigentümlich auch der Eindruck des behinderten Gehens, das Schwindeln des Kopfes auf die sich hebenden und sinkenden Treppen, das scheinbar gelähmte Angehaltenwerden und Vorwärtsfallen beim Gehen auf Deck» (Tb, 22.5.1934). (Anm d. Verf.: Diese erste transatlantische Seereise hinterliess einen bleibenden Eindruck auf Thomas Mann und inspirierte ihn zu seinem Text Meerfahrt mit Don Quijote, den er nach der Heimkehr im Oktober 1934 in Zürich verfasste).

Thomas und Katia Mann an Deck der «Lafayette» auf der zweiten Überfahrt in die USA. 18/06/1935, ETH-Bibliothek Zürich, Thomas-Mann-Archiv/ Fotograf: Unbekannt/TMA_0358

Thomas Manns eigene Gedanken über eine Schiffsreise waren folgendermassen: «Man sagt, daß bei andauernd günstiger Strömung und ruhigem Wetter die Ankunft am Montag den 28. nachmittags erfolgen wird. […] Durch diese Unbestimmtheit der Stunde und selbst des Tages der Ankunft unterscheidet die Seereise sich ebenfalls von der per Eisenbahn; sie hat, trotz vollendetem Komfort, etwas Primitiveres, dem Element Überlasseneres, Unexakteres, auf den Zufall Gestellteres behalten, sympathische Besonderheit» (Tb, 25.5.1934). Dieses von ihm als angenehm empfundene, dem Zufall überlassene Reisen ist wohl noch heute das Ziel aller Weltenbummler, ging aber mit dem Aufkommen des kommerziellen Luftverkehrs nach dem zweiten Weltkrieg ein wenig verloren. Die ersten Flugverbindungen für den Passagierverkehr zwischen den USA und Europa, die Thomas Mann nutzte, muten aus heutiger Sicht geradezu abenteuerlich an: So mussten die Flugzeuge von London nach New York mehrere Zwischenlandungen hinlegen: «Niedergehen in Irland, wo man restauriert wurde. […] Längerer Schlaf zur Nacht, dabei wilde Heimsuchung. Gander, New Foundland, gestern. Langer Aufenthalt. Nach der Abfahrt Wiederumkehr wegen Ausfall eines Motors. Neues Warten von 2 Stunden oder mehr. Dann ungestörte Weiterfahrt über Boston nach New York, glatte Landung.» (Tb, 22.8.1950) (Für Luftfahrt-Nostalgiker*innen sei angemerkt, dass Thomas Mann bevorzugt mit der Swiss Air reiste). Obwohl auch diese Reise trotz allen Zwischenlandungen und -fällen um einiges schneller absolviert wird, ist sie eindeutig beschwerlicher als die früheren Schiffsreisen. Ein Gefühl, das wohl jede*r kennt, der einmal einen Langstreckenflug in der Economyclass absolviert hat.

Thomas und Katia Mann auf dem Flughafen Kloten, kurz vor dem Abflug nach London. 17/08/1950, ETH-Bibliothek Zürich, Thomas-Mann-Archiv/Fotograf*in: Unbekannt/ TMA_2341

Die Erde, so scheint es nach heutiger Wahrnehmung, ist kleiner geworden. Die von Thomas Mann bereisten Strecken sind häufig in weniger als vierundzwanzig Stunden zu erreichen. Obwohl wir uns an schnelle und effiziente Flugverbindungen gewöhnt haben, lohnt es sich hin und wieder, einen Blick zurückzuwerfen und sich mit Thomas Mann daran zu erinnern, dass eine Reise auch um die Reise selbst willen angetreten werden kann.  Oder wie es sein geistiges Vorbild Goethe einst ausdrückte: «Man reist ja nicht, um anzukommen, sondern um zu reisen».

Literaturnachweis

Johann Wolfgang von Goethe: Goethes Gespräche. Mit Caroline Herder 4. bis 8. September 1788. Hrsg. von Woldemar Freiherrn von Biedermann. Leipzig: von Biedermann 1889-1891, S. 94 (= Bd. 1).

Thomas Mann: Meerfahrt mit Don Quijote. Erstdruck in: Neue Zürcher Zeitung 5. – 15. November 1934, Jg. 155.

Thomas Mann: Meerfahrt mit Don Quijote. Einzeldruck (1.-20. Tsd): Wiesbaden: Insel Verlag 1956.

Thomas Mann: Der Wille zum Glück. In: Thomas Mann. Früher Erzählungen 1893-1912. Hrsg. und textkritisch durchgesehen von Terence J. Reed unter Mitarbeit von Malte Herwig. Frankfurt/Main: S. Fischer Verlag 2004, S. 50-70, hier S. 62. (= Grosse kommentierte Frankfurter Ausgabe, Bd. 2.1).

Thomas Mann: Tagebücher 1933-1934. Hrsg. von Peter de Mendelssohn, ab Bd. 6 hrsg. von Inge Jens. Frankfurt/Main: S. Fischer 1977-1995.

Alle Abbildungen stammen aus dem rechtefreien Bestand des Thomas-Mann-Archivs der ETH Zürich. Unter folgendem Link finden sich noch viele weitere schöne Fotografien von Thomas Manns Reisen: https://tma.e-pics.ethz.ch/#1626690523274_0

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