Der Indianerhäuptling im Hochschularchiv der ETH

Ein richtiger Indianer im glasperlenbestickten Lederfransenkostüm mit wogendem Federnkopfschmuck, ein echter Wilder! Die Damen der gehobenen Genfer, Berner, Luzerner, St. Galler, Zürcher Gesellschaft fächelten sich Luft zu, die Herren hüstelten nervös…

Chief Deskaheh und die Irokesenkommission der Schweizerischen Liga für Eingeborenenschutz vor dem Palais d’Athénée in Genf, 1923 (Bild: Bibliothèque de Genève | CC BY-NC-ND 4.0)

Levi General, so der amtliche koloniale Name der exotischen Erscheinung, oder Deskaheh, der offizielle Titel in seiner eigenen Sprache, war vom Rat der sechs Irokesenvölker 1923 in die Schweiz nach Genf gesandt worden. Hier sollte er die Aufnahme der Hodenosaunees, «Volk des Langhauses» wie sich die Irokesen selber nannten, als souveräner Staat in den neugegründeten Völkerbund erwirken und damit die internationale Anerkennung ihres Rechts auf Selbstbestimmung.

Nach dem amerikanischen Unabhängigkeitskrieg hatte die britische Krone das Territorium der Irokesen an die USA abgetreten und den Indianern Ersatz in Kanada im südlichen Ontario angeboten. Hier genossen sie zunächst weitgehende Autonomie, doch im Zuge der Loslösung Kanadas von Britannien wurden sie zunehmend unterdrückt, ihre kulturellen Traditionen verboten, die Kinder den Familien entrissen, die Erwachsenen einer Vormundschaftsbehörde unterstellt und das Land an weisse Siedler vergeben. Die «Wilden» wurden, wenn sie denn nicht freiwillig spurten, mit der «Zivilisation» zwangsbeglückt.

Untereinander zerstritten, ob und wie sie sich dagegen wehren sollten, wählte der Rat der sechs Irokesenvölker schliesslich Deskaheh zu ihrem Vertreter und anerkannte einen US-amerikanischen Anwalt britisch-deutscher Herkunft als ihren offiziellen Rechtsberater im Umgang mit Behörden und Regierungen. Zunächst reisten die beiden nach Ottawa, danach nach London und in die befreundeten Niederlande, um ihre verbrieften Rechte durchzusetzen. Vergebens. Daraufhin riet der Anwalt, sich an den Völkerbund zu wenden, und liess dessen Präsident eine Broschüre mit dem Text der britischen Landschenkung und der Geschichte der Irokesen zukommen.

Aufklärungsbroschüre zur Situation, Geschichte und Forderung der Irokesenvölker (ETH-Bibliothek, Hochschularchiv ETHZ, Nachlass Arnold Heim, Hs 494a:1)

In Genf gelandet, vermittelte der Rechtsberater auch den Kontakt zu der hier ansässigen Schweizerischen Liga für Eingeborenenschutz. Nach dem Auftritt Deskahehs vor deren Generalversammlung bildete die Liga eine Irokesenkommission und posierte mit ihrem neuen Schützling für eine werbewirksame Pressefotografie. Auf dem Bild reicht die gefiederte Rothaut einem bärtigen Bleichgesicht die Friedenspfeife, nicht das Kriegsbeil. Zwei andere Herren halten die Perlenstickereien, welche laut Deskaheh die Rechte der Irokesen dokumentierten.

Ausschnitt aus: Chief Deskaheh und die Irokesenkommission 

Der Wilde und der Weltverbesserer

Um das Anliegen der Irokesen einer breiten Öffentlichkeit bekannt zu machen, organisierte die Kommission für Deskaheh eine Vortragstour durch die Schweiz. Zur Unterstützung wandte sie sich an befreundete Organisationen und Persönlichkeiten. So bat sie Doktor Arnold Heim, Erdölgeologe und Privatdozent der ETH in Zürich, den Gast beim Vortragspublikum einzuführen und dessen Ausführungen zu übersetzen.

Heim liess sich nicht lange bitten. Er gehörte wie schon seine Eltern der Lebensreformbewegung an, welche die Auswüchse der modernen Industriegesellschaft mit einer natürlichen Lebensweise bekämpfen wollte. Die Lebensweise der Naturvölker erschien ihm als heile Gegenwelt. Nun bot sich gar die Gelegenheit, ein leibhaftiges Exemplar dieser vorbildlichen «edlen Wilden» dem Publikum zu präsentieren!

Arnold Heim, 1926 (ETH-Bibliothek, Bildarchiv, Portr_14468)

Recht schnell fühlte Heim sich allerdings durch die Betreuung des Gastes überlastet. Es war nicht getan mit Vorstellen und Übersetzen. Die Irokesenkommission überliess ihm auch die meisten anderen organisatorischen Details. Gerne hätte er wenigstens einen anderen Dolmetscher engagiert. Zwar konnte er da und dort mit Unterstützung seiner Bekannten rechnen bei der Suche nach geeigneten Lokalitäten. Aber gerade die Übersetzungshilfe und Moderation der Diskussion durch ihn, den weitgereisten Forscher und Gelehrten, unterstrich die Bedeutung des exotischen Gastes. Ein unbekannter Ersatzdolmetscher fand sich daher nie.

Dann kam es auch gelegentlich zu Missverständnissen und enttäuschten Erwartungen zwischen Gast und Betreuer. Heim ärgerte sich, dass Deskaheh jeweils erst knapp vor Vortragsbeginn erschien, und keine Zeit blieb, den geplanten Verlauf der Veranstaltung zu besprechen. Nun, Deskaheh musste für die Vorträge von Genf, wo er logierte, quer durch die Schweiz reisen. Da waren Verspätungen wohl kaum zu verhindern. Manchmal erschien er jedoch gar nicht, und Heim musste den Vortrag kurzfristig absagen.

Umgekehrt fühlte sich Deskaheh von Heim im Stich gelassen, weil er ihm zwar riet, sich kurz zu fassen, sich dem Publikum anzupassen und gewisse Themen wegzulassen, aber nicht sagte, auf welche Themen er verzichten sollte und was das Publikum erwartete:

«[…] in the room you told me not to make the speech to long and leave the other subject out which you did not mention which subject it was to be left out . and I was lost entirely and you should have be mention before the audience about the subject you people want to know […]”


«…and I was lost entirely…» Deskaheh an Heim, 1. Dezember 1923 (ETH-Bibliothek, Hochschularchiv ETHZ, Nachlass Arnold Heim, Hs 494a:1)

Nach einem Vortrag in St. Gallen machte Heim seinem Gast Vorhaltungen, weil Deskaheh, dem das Reisegeld ausging, beim Publikum Geld einsammelte:

«Dear Chief!

I have been very glad of your splendid speech of yesterday. But on the other hand, I feel I must tell you, that your collecting money made to many people not a good impression, after I have said, for what purpose you have come (not for making money), and what is your position (equal to what we would call minister president). I perfectly understand, that you cannot work without the money, and should only like you would get as much as you need, but I think it should be better in another way. […]”

Deskaheh war aus seiner Rolle gefallen. Die Würde seines Amtes als Staatsoberhaupt, als das er die Schweiz bereiste, vertrug sich nicht mit eigenhändiger Bettelei. Er hatte sich wie ein Schausteller der gängigen Touristik-Shows in seiner Heimat benommen, in denen seine Stammesgenossen zum Lebensunterhalt die traditionellen Tänze und Zeremonien aufführten und hinterher bei den Zuschauenden für die Zirkusnummern mit dem Sammeltopf die Runde machten.

Anderseits rechnete der helvetisch haushälterische Arnold Heim selber der Irokesenkommission in recht kleinlich anmutender Manier bis auf den letzten halben Rappen vor, was ihn die Betreuung des fremden Gastes kostete. Nichts da von grosszügiger Geste des geehrten Gastgebers eines Staatsoberhauptes. Deskaheh sah sich ungeachtet seiner eigenen knappen Kasse veranlasst, Heim die Auslagen zu ersetzen.

Ausser Spesen nichts gewesen

Die Vortragstournee wurde trotz aller Unstimmigkeiten ein voller Erfolg. Das Publikum erschien manchenorts so zahlreich, dass die Vorträge wiederholt werden mussten.

Nur beim Völkerbund kam Deskaheh nicht weiter. Hatten anfänglich noch einige Staaten mit dem Anliegen der Irokesen sympathisiert, waren sie von den Gegnern des gefährlichen Wanderpredigers längst eines Schlechteren belehrt worden. Es wurde befürchtet, die Anerkennung der Irokesen als eigenständige Nation könne weltweit weitere unterdrückte Volksgruppen und Minderheiten dazu ermuntern, Selbstbestimmung und Unabhängigkeit zu fordern.

So reiste Deskaheh nach zwei Jahren enttäuscht wieder ab. Als Souvenir seiner Tour de Suisse nahm er eine chronische Lungenkrankheit mit. Kanada verweigerte ihm die Einreise und verbot dem irokesischen Medizinmann, den Deskaheh im amerikanischen Exil hatte rufen lassen, die Ausreise. So ging der Geist Deskahehs in die ewigen Jagdgründe ein oder in die unendlichen Maisfelder – denn er war Bauer von Beruf gewesen – ohne die Heimat je wieder gesehen zu haben. Erst seine sterblichen Überreste durften die kanadischen Grenzen passieren.

War er einem Giftmord zum Opfer gefallen, wie Willi Wottreng in seiner «wahren Geschichte» andeutet? Deskaheh trank nur Milch zum Entzücken seiner lebensreformierten Gastgeber. Schon Arnold Heims Mutter Marie Heim-Vögtlin, die erste Ärztin der Schweiz, hatte das gesunde Getränk dem ETH-Präsidenten dringend zum Ausschank in den studentischen Verpflegungsstätten empfohlen. Nur war das gesunde Getränk auch eine ideale Brutstätte für allerlei Krankheitskeime wie etwa die damals in allen Gesellschaftsschichten verbreitete Tuberkulose. Chemische Kriegsführung der diskreten Art? Nicht unmöglich.

Hinweise

Das Hochschularchiv der ETH Zürich an der ETH-Bibliothek archiviert einen umfangreichen Teilnachlass des Geologen Arnold Heim. Darin befindet sich das Dossier Hs 494a:1, Berichte und Korrespondenzen über den Besuch von Deskaheh, Chef der sechs irokesischen Stämme (Mohawk, Onondage, Oneida, Cayuga, Seneca und Tuscarora) in der Schweiz, 1923.

Willi Wottreng: Ein Irokese am Genfersee. Eine wahre Geschichte, Zürich 2018

Aram Mattioli: Keiner Nation untertan. In: Zeit Online 27.Februar 2018, 16:47 Uhr / Editiert am 2. März 2019, 21.02 Uhr / Die Zeit Nr. 10/2019, 28. Februar 2019

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