Der andere Blick – Künstler in naturhistorischen Sammlungen

Naturhistorische Sammlungen stehen im Spannungsfeld zwischen Natur und Kultur. Ihre Objekte sind Pflanzen, Steine, Tiere und andere der belebten und unbelebten Natur entnommene Dinge. Deren Auswahl, Präparation, Interpretation, Einordnung und Benennung sind jedoch menschliche Leistungen und machen die Sammlungen zu Kulturgütern. Das Leben wird einer Ordnung unterworfen, es wird in Kästen genadelt, auf Herbarbögen fixiert und für die Ewigkeit in Alkohol konserviert. Organismen, die sich natürlicherweise niemals begegnen, finden sich hier aufgrund stammesgeschichtlicher Verwandtschaft vereint, und scheue Einzelgänger stehen in Sammlungskästen in Reih und Glied beisammen. Es ist eine eigene Welt, sowohl Natur wie auch Abstraktion derselben zugleich.

In ihrer Widersprüchlichkeit liefern naturhistorische Sammlungen seit Jahrhunderten Anregungen für Kunstschaffende – selbst heute noch, man denke nur an Zeitgenossen wie Damien Hirst. Künstler, Fotografen und Gestalter bewegen sich hier mir einer Freiheit, die Biologen, Taxonomen und Systematikern verwehrt bleibt. Sie ignorieren die Grenzen der Phylogenie, die Regeln der Nomenklatur und überlieferte Traditionen und lesen Sammlungen gegen den Strich. Sie erkunden die künstlichen Welten von Insektenkästen, gepressten Pflanzen und ausgestopften Tiere, sie suchen Inspirationen und werden zu Sammlern in Sammlungen. Ihnen eröffnet sich eine Wunderkammer, eine Terra incognita, die es zu entdecken und reflektieren gilt. Kunstschaffende sind wie kaum jemand in der Lage, die Ambivalenzen naturhistorischer Sammlungen aufzuspüren und darzustellen. Mit ihren Werken fordern sie die Wissenschaft auf, Althergebrachtes mit neuen Augen zu sehen. Mit ihren Werken wecken sie aber auch Begeisterung bei Aussenstehenden für die kaum bekannten Kostbarkeiten naturhistorischer Sammlungen. Die ETH steht in dieser Hinsicht nicht abseits und öffnet Künstlern regelmässig ihre Sammlungen, wie es die folgenden Beispiele illustrieren sollen.

Abbildung 1: Daphnis Nerii. Fotografie eines Oleanderschwärmers aus der Serie “Oculi compositi” von Jason Kleeb, 2016.

Auge in Auge näherte sich der Zürcher Fotograf Jason Kleeb den Insekten an und erstellte 2016 die Serie “Oculi compositi” (Abb. 1). Mit einer Vollformat-Kleinbildkamera und einem Lupenmakroobjektiv nahm er bis zu 150 Einzelbilder auf, die er danach zu einem einzigen Bild zusammenfügte. Die Fotografien wurden grossformatig auf Aluminiumplatten gedruckt, was den Glanz der Augen intensivierte, und zweimal ausgestellt: 2016 in der Photobastei Zürich und 2017 in einer Sammelausstellung in Rorbas ZH, die sich dem Schaffen von ortsansässigen Kunstschaffenden widmete. Eigenartig fallen die unregelmässig verteilten Flecken im Auge des Oleanderschwärmers auf. Von Sammlungsmitarbeitern bisher übersehen, wurden die dunklen Kreise erst vom Künstlerauge wahrgenommen. Handelt es sich um post mortem entstandene Verunreinigungen, eventuell durch Pilze oder Bakterien?

Abbildung 2: Perlenarmband, Ring und Totenkopfschwärmer. Fotografie von Oliver Nanzig, 2016.

Oliver Nanzig, Schweizer Werbe- und Kunstfotograf, stellte Nachtfalter einer Schmuckkollektion von Beatrice Rossi gegenüber (Abb. 2). Ihn beschäftigte “das Filigrane und Detaillierte sowohl im Schmuck als auch im Totenkopfschwärmer”. Deuten der zerbrochene Spiegel, die Juwelen und das Totenkopfmotiv nicht auch eine Vanitas-Ästhetik an?

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Video: Rendez-vous! – Insektensammlung trifft Textildesign. Teaser zur Ausstellung, die vom 22.03. – 03.04.2019 im Lichthof des Gebäudes CHN der ETH Zürich stattfindet.

Studierende der Studienrichtung Textildesign an der Hochschule Luzern – Design & Kunst besuchten im Herbst 2018 die Entomologische Sammlung der ETH Zürich. Die angehenden Textilgestalter sollten sich von realen Objekten inspirieren lassen. Dazu gehörte, die Insekten genau zu betrachten, sie in einen neuen Kontext zu setzen und das ursprüngliche Motiv weiterzuentwickeln – teils bis zu dessen totaler Auflösung. Entstanden sind hochstehende Designs, die in der Siebdruck- und Stickereiwerkstatt umgesetzt wurden und vom 22. März bis am 3. April in der Ausstellung Rendez-Vous! – Insektensammlung trifft Textildesign besichtigt werden können (Video).

Links und Literatur:

Jason Kleeb: www.instagram.com/jasonkleeb

Oliver Nanzig: www.instagram.com/oliver_nanzig/ ; www.dsphotographers.ch/photography/oliver-nanzig/

Hochschule Luzern – Design & Kunst: https://www.hslu.ch/de-ch/design-kunst/

Ausstellung Textildesign an der ETH Zürich: www.ethz.ch/textildesign

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