Der Tierwelt auf der Spur: Gessners Phantombilder

Der Universalgelehrte und Zürcher Stadtarzt Conrad Gessner (1516-1565) lebte in einer Zeit, in der zum überlieferten Wissen vielfältige neue Erfahrungen hinzukamen. Durch die Entdeckung Amerikas kamen nicht nur unbekannte Orte hinzu, sondern auch eine unbekannte Flora und Fauna. Zugleich wurden viele antike Schriften wie die zoologischen Schriften von Aristoteles und Plinius wiederentdeckt und neu herausgegeben (Friedrich 2009, S. 193). In diesem Kontext veröffentlichte Gessner seine Tierenzyklopädie, die Historia animalium und Icones animalium, die neben zahlreichen anderen Publikationen aus den unterschiedlichsten Wissensgebieten zu Gessners bekanntestem Werk zählt.

Abb. 1: “Schaligel“ aus Icones animalium quadrupedum […], S. 103

Gessner beabsichtigte, in seiner Tierenzyklopädie das gesamte Wissen über die Tierwelt zusammenzuführen, wobei er sich zu einem grossen Teil auf literarische Quellen, aber auch auf eigene Beobachtungen oder Beschreibungen von anderen zeitgenössischen Gelehrten bezog. Die einzelnen Bände erschienen zwischen 1551 und 1558 und fanden bereits bei seinen Zeitgenossen grosse Beachtung, wurden sie doch relativ schnell in neuen Auflagen gedruckt und in andere Sprachen übersetzt (Egerton 2003, S. 207). Das Buch Icones animalium quadrupedum viviparorum et oviparorum, quae in historiae animalium Conradi Gesneri libro I et II describuntur erschien erstmals 1553 und wurde bereits 1560 in einer neuen und verbesserten Ausgabe gedruckt. Es enthielt die Abbildungen und Bezeichnungen der vierfüssigen Tiere, die in den Bänden der Historia animalium beschrieben wurden.

Im Vorwort verwies Gessner auf die unterschiedliche Qualität der Abbildungen und deren unterschiedliche Herkunft (Gessner 1560, S. 7). Gessner hatte nicht die finanziellen Mittel, um ausgiebige Reisen zu unternehmen und alle Tiere mit eigenen Augen zu sehen. Dennoch gab Gessner an, dass die meisten Abbildungen „ad vivum“ (nach dem Leben) gemalt wurden. Das bedeutete aber nicht, dass alle diese Abbildungen anhand eines lebendigen Tieres erstellt wurden. Vor allem bei fremden und seltenen Tieren konnten sie auch wie Phantombilder anhand von Beschreibungen oder bereits bestehenden Abbildungen entstanden sein wie das Nashorn, das von Dürer stammte (Kusukawa 2010, S. 306-307). Dürer hatte selbst nie ein Nashorn gesehen und erstellte den Holzschnitt zu Beginn des 16. Jahrhunderts anhand einer detaillierten Beschreibung und einer dazugehörenden Zeichnung (Hess 2016, S. 32).

Datum geschätzt;Abb. 2: Nashorn aus Icones animalium quadrupedum […], S. 60

Bei einzelnen Abbildungen dienten Tierpräparate oder einzelne Körperteile als Vorlage, und es konnte auch vorkommen, dass eine Abbildung aus verschiedenen bereits existierenden Abbildungen neu zusammengesetzt wurde (Kusukawa 2010, S. 307).

Gessner gilt unter anderem aufgrund dieser Illustrationen als Begründer der modernen Zoologie. Seine Tierenzyklopädie war eine der ersten, die ausgiebig mit Holzschnitten illustriert wurde (Egerton 2003, S. 207). Viele dieser Abbildungen wurden bis in das 18. Jahrhundert immer wieder in Drucken verwendet und beeinflussten so über eine lange Zeit die Vorstellung von der Tierwelt (Hess 2016, S. 32, Schmutz 2016, S. 136).

Literatur:

Egerton, Frank N. (2003): A History of the Ecological Sciences, Part 11: Emergence of Vertebrate Zoology During the 1500s.

Friedrich, Udo (2009): Weltmetaphorik und Wissensordnung in der Frühen Neuzeit.

Hess, Daniel (2016): Der neue Blick auf die Welt: Natur und Kunst von Dürer bis Gessner. In: Leu, Urs; Ruoss, Mylène (Hg.): Facetten eines Universums. Conrad Gessner 1516-2016. Zürich, Verlag Neue Zürcher Zeitung.

Kusukawa, S. (2010): The sources of Gessner’s pictures for the Historia animalium.

Schmutz, Hans-Konrad (2016): Gessners Tierbuch – zur Historia animalium. In: Leu, Urs; Ruoss, Mylène (Hg.): Facetten eines Universums. Conrad Gessner 1516-2016. Zürich, Verlag Neue Zürcher Zeitung.

 

 

Schreibe einen Kommentar