Kannibalismus und der Fall Saitschik

1902 wurde der Schulratspräsident in einer Sitzung des Schweizerischen Schulrats beauftragt, Albert Heim, Prof. für Geologie an beiden Zürcher Hochschulen, zu ermahnen, er möge in Zukunft in seinen Vorlesungen „weniger auf das religiöse Gebiet übergreifen und Aussprüche vermeiden […], die Anlass zu falscher Auffassung geben könnten.“ Heim hatte in seiner Vorlesung über die „Urgeschichte des Menschen“ die These geäussert, „in dem heiligen Abendmahle stecke noch ein Ueberrest von Kannibalismus“.

Wie der Schulrat darlegte, brachten einige Zeitungen Heims Äusserung in Verbindung mit dem Fall Saitschik, der den Schulrat ungleich stärker beschäftigte. Der Russe Robert Saitschik lehrte seit 1895 Literatur am Eidgenössischen Polytechnikum und hatte für das Wintersemester 1902/03 eine Vorlesung über „Christentum und Buddhismus“ angekündigt, womit er im Schweizerischen Schulrat auf wenig Verständnis stiess. In seiner Sitzung vom 30.06.1902 verbot der Schweizerische Schulrat die Durchführung der Vorlesung, weil sie inhaltlich nicht in den Bereich der Venia Legendi des Dozenten falle. Aber damit nicht genug:

Auf die von Dr. Saitschick gewünschte Erweiterung der venia legendi wird nicht eingetreten, sondern im Gegenteil die bisher erteilte, auf „Allgemeine Literatur, Aesthetik und russische Sprache“ lautende venia legendi beschränkt auf „Slavische Literatur und russische Sprache.“

SR3-1902_945_1

ETH-Bibliothek, Hochschularchiv, SR3: 1902, 829. Petition an den Schweizerischen Schulrat von Juli 1902.

Doch innerhalb Saitschiks treuer Hörerschaft formierte sich der Widerstand. Eine Petition zur Erweiterung der Robert Saitschik erteilten Venia Legendi erreichte rund 180 Unterschriften. Eine Zahl, die den Schulrat beunruhigte. Zum Vergleich: Albert Einsteins Abschlussklasse umfasste lediglich 5 Studierende.

 SR3-1902_945_2

Erste Seite der Unterschriftenbogen zur Petition zugunsten Robert Saitschiks mit deutlich zu erkennenden Notizen des Schulrats (ETH-Bibliothek, Hochschularchiv, SR3: 1902, ad 945.)

Aus den Unterschriftenbogen und den Akten geht deutlich hervor, wie sehr sich der Schulrat um eine Diskreditierung der Petition bemühte. Die Schulräte gingen jeder einzelnen Unterschrift nach, klärten ab, ob die/der Unterzeichnende lediglich Hörer oder effektiv als Studierender am Polytechnikum eingeschrieben war und wenn ja in welchem Fach. Aus den Sitzungsprotokollen des Schulrats geht auch hervor, dass der Rat zu diesem Zeitpunkt selbst gespalten war. Ein einstimmiger Entscheid kam trotz angebotener Kompromisse nicht zustande. Die Hardliner setzten sich jedoch durch und die Venia Legendi blieb eingeschränkt. Auch ein zweiter Versuch Robert Saitschiks, den ursprünglichen Umfang der Lehrberechtigung zu erlangen, scheiterte 1904. Trotzdem bleibt er an der ETH Zürich und wird 1907 zum Titularprofessor erhoben. Der Antrag des Schweizerischen Schulrats wurde mit dem Dienst guter Leistungen durch andauernden Lehrerfolg begründet.

Schreibe einen Kommentar