Die peinliche Befragung – Prüfungen an der ETH

Vor rund zwei Wochen – die sommerliche Prüfungssaison kaum zu Ende, die Resultate noch nicht bekannt, knapp vor dem neuen Herbstsemester – war in der Presse zum Schrecken der Geprüften und der erwartungsvollen Neulinge zu lesen, dass an der ETH Zürich ein Drittel der Studierenden das erste Jahr nicht überstehe. Diesmal wurde die Meldung im Zusammenhang mit dem Ansturm schwacher Bachelorabsolventen und -absolventinnen aus dem Ausland auf Schweizer Universitäten verbreitet. Doch waren Abschreckung und strenge Examen seit jeher bewährte Mittel, um die Studierenden auf das gewünschte Leistungsniveau aus- und abzurichten zur Sicherung von Ausbildungsqualität und Ansehen der Lehranstalt.

“Prüefigsfrage” aus: V.OCT.MCMLXIII.,

Hg. Mitarbeitende des Institutes für Spezielle Botanik ETH Zürich,

in: Ernst Gäumann, Biographische Sammlung. Archive und Nachlässe ETH-Bibliothek Zürich

Gefürchtet waren beispielsweise die Prüfungen bei Ernst Gäumann (1893-1963), Professor für Botanik, über den eine kleine Erinnerungsschrift zum 70. Geburtstag berichtet: “Auf Exkursionen ist er flott, doch im Examen – Gnad uns Gott!”. Was Prüflingen bei ihm blühen konnte, hält das abgebildete Gedicht aus der humoristischen Zeitung fest, die seine Institutsangehörigen ihm zur Geburtstagsfeier schrieben. Für Lesende, die der Berner Mundart – Gäumanns Muttersprache – nicht mächtig sind, eine Übersetzung in die Schriftsprache:

Prüfungsfragen

Wann haben die alten Eidgenossen

das erste Bündnis geschlossen?

Und was haben sie in Stans beschlossen?

Und warum den Gessler denn/dann erschossen?

Was vor der Schlacht bei Sempach gegessen?

Hast du die Tiefe der Aare auch schon gemessen?

Wieso hast du das alles schon vergessen?

Kannst du eigentlich auch Pflanzen pressen?

Wer hat den Lötschbergtunnel konstruiert?

Wer hat den Schatz von Karl dem Kühnen abserviert?

Und wer hat das grosse Moos drainiert?

Hast du Cyperales auch studiert?

Wieso geht (fliesst) die Linth in den Walensee?

Hast du schon einmal eine Lilie gesehen?

Wieso weisst du über diese Familie nicht mehr?

Woher stammt eigentlich der Tee?

Warum gehört Aarau nicht mehr zu Bern?

(Das hört er zwar nicht grauslich [sehr] gern)

Was ist ein rechter Morgenstern?

Wieso haben die Zwetschgen keine Kerne?

Wer ist Niklaus von der Flüe?

Was hat es im Berneroberland für Kühe/welche Kühe gibt es im Berneroberland?

Und warum blühen die Anemonen früh?

Macht solch eine Frage dir Mühe?

Der vierzeilige Schlusskommentar aus dem Basler Dialekt übersetzt:

Hat er dir fast den Nerv ausgerissen?

Du merkst es bald und kriegst ein unruhig Gewissen,

bei Gäu musst du über Pflanzen auch ein bisschen etwas wissen,

doch ohne Schweizergeschichte bist du einfach beschissen.

Gäumann pflegte seine Studierenden und Institutsangehörigen zu duzen, was diese in der Regel als Privileg empfanden und worum sie von Aussenstehenden gelegentlich beneidet wurden. Dass er Kandidatinnen und Kanditaten aus der deutschsprachigen Schweiz tatsächlich in Mundart prüfte statt in der deutschen Unterrichtssprache, ist nirgens erwähnt, obschon durchaus denkbar. Dagegen ist verbürgt, dass Gäumann die Studierenden zu selbständigem Denken und Arbeiten anhielt. Entsprechend ungnädig reagierte er, wenn an Prüfungen bloss auswendig gelernte Vorlesungsinhalte  “wiedergekäut” wurden. Dies dürfte neben Gäumanns Patriotismus auch ein Grund gewesen sein, die Kandidatinnen und Kandidaten mit Fragen ausserhalb des eigentlichen Lernstoffes zu traktieren.

Literatur:

– V.OCT.MCMLXIII., Hg. Mitarbeitende des Institutes für Spezielle Botanik ETH Zürich. Die Geburtstagszeitung mit dem Prüfungsgedicht findet sich im Dossier Ernst Gäumann der Biographischen Sammlungen, einer Dokumentation mit Zeitungsausschnitten, Nachrufen etc. zu Persönlichkeiten aus Wissenschaft und Technik sowie über ETH Einrichtungen, in der Spezialsammlung “Archive und Nachlässe” der ETH-Bibliothek

– Herrn Professor Dr. Ernst Gäumann zum siebzigsten Geburtstag gewidmet von seinen Schülern und Mitarbeitern, Kollegen und Freunden, Wabern-Bern, 1963

Link:

Ernst Gäumann

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