Max Frisch im Spiegel der Schaufenster

Die Zürcher Bahnhofstrasse bezeichnete Max Frisch einmal als „Schaufenster unseres Wohlstandes“. Anfang der 1930er Jahre war er selbst von diesem Wohlstand jedoch weit entfernt. Nach dem plötzlichen Tod des Vaters schlug er sich mit verschiedenen Jobs durch und näherte sich den prächtigen Auslagen der Geschäfte auf seine Weise.

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Zürich, Menschentraube vor einem Schaufenster im Jahr 1956 (Com_M05-0097-0015)

In seinem frühen Text Was bin ich? beschreibt Frisch, wie er an Redaktionstüren anklopft, um erste bezahlte Schreibaufträge zu erhalten. Schliesslich erbarmt sich ein Redaktor des Studenten, der noch keinerlei Erfahrung vorweisen kann, und trägt ihm auf, fünfzehn Druckzeilen über ein „originelles Schaufenster“ am Bahnhofplatz zu schreiben.[1]

Ein Anfang, immerhin. Und ein Anfang, bei dem es Frisch nicht belässt. Er, dem sonst nie in den Sinn käme, „im Schaufenster lang zu betrachten, was ich mir nicht leisten kann“,[2] baut die Position des vom Konsum Ausgeschlossenen konsequent zum Beobachtungs- und Schreibstandpunkt aus:

Über dieses Schaufenster soll ich jetzt etwas schreiben. Ich stehe. Und im Glas steht mein Spiegelbild … Max. Fangen wir an, Max.[3]

Das Schaufenster als Spiegel des Selbst, des Menschen oder der Gesellschaft ist ein Motiv, das sich durch verschiedene Texte zieht. Im Dezember des Jahres 1932 beschreibt Frisch eine Menschenansammlung vor einem Sportgeschäft. Ungläubig starren die Passanten auf eine Schaufensterpuppe:

Blankneue Skiausrüstung und auf Skier gestellt, mitten zwischen Skiwachspäcklein, Schuhen, Seehundsfellen und was eben ein Sporthaus ins Schaufenster legt. Eine Modellfigur, wie man viele sieht. Aber: sie bewegt sich. Sie hebt die Skistöcke, regelmäßig und langsam, und klopft dreimal an die Fensterscheibe, mit starrem Reklamegrinsen.[4]

Weder der „Fünfliber“, den ein Junge der Figur anbietet, noch das strahlende Lächeln einer Frau bringen die Puppe aus dem Konzept. Die Illusion des Wintersportschaufensters ist so perfekt, dass Frischs Text es offen lässt, ob den Passanten aus dem Fenster ein Mensch oder tatsächlich ein raffinierter Automat den Skistock entgegenstreckt.

Die zunehmende Verdrängung des Menschen durch die Technik spricht auch aus einem Artikel, in dem Frisch die Auslagen verschiedener Musikgeschäfte betrachtet:

In Musikhäusern, die ehedem mit schönen Flügeln und alten Geigen auftrumpften, sind nunmehr jene Apparate eingezogen, die das eigenhändige Musikmachen verdrängt haben: Grammo und Radio.[5]

Verspielt und ironisch sind Frischs Betrachtungen. Mit feinem Gespür für die Sprache der Oberfläche nähert sich der in interpretatorischen Fragen geschulte Germanistik-Student den Schaufenstern und weiss dabei „kreischende Absonderlichkeiten“ von gelingender Werbung zu unterscheiden:

Wir gucken zu ihnen hinüber, und sie fangen tatsächlich unsere Augen, aber noch lange nicht uns selber. […] Wie viel eher gewinnt ein Fenster unsere Sympathie, wenn es uns eine kleine Freude bietet. Gegenwärtig gelingt das zum Beispiel dem Spezialgeschäft für Seiden- und Wollstoffe „Spira“ […] Die angebotenen Stoffe geben eine zarte Farbenmelodie und sind als straffe Bänder und flutende Tücher sehr schön mit den Figuren in den Raum komponiert. Da die Schrift nicht aufdringlich ist, nimmt der Vorübergehende einen kleinen hübschen Genuß mit und ist sich vielleicht gar nicht bewußt, daß ihn jetzt eine Reklame gefangen hat.[6]

In der Weihnachtszeit des Jahres 1932 galt Frischs Aufmerksamkeit aber nicht nur den großformatigen Schaufenstern, sondern auch kleinen, eng beschriebenen Adresszetteln. Um sein finanzielles Auskommen bemüht, arbeitete er vier Tage lang als Postgehilfe. In seinem Text Frohe Festtage: hinter dem Schalter gesehen erscheinen all die Geschenke nun nicht mehr als kunstvoll drapierte Kostbarkeiten, wie sie im Schaufenster lagen, sondern als „Gebirge von Paketen“, dem sich der junge Frisch machtlos gegenübersieht:

Soll sie nämlich einschreiben, all diese Weihnachtspäcklein, deren erstes ich zum Beispiel trotz Augenverrenken nicht entziffern kann. Wird rasch wieder hingelegt. Und das zweite: ägyptische Keilschrift wäre Kinderspiel dagegen. Wird rasch wieder hingelegt. Und mit beginnender Nervosität taste ich nach solchen, deren Adressen in Maschinenschrift wären.[7]

Vor dem Schaufenster und hinter dem Schalter denkt Frisch nicht nur über die ästhetischen und ökonomischen Bedingungen des modernen Warenverkehrs nach, sondern auch über seine eigenen Rollen als Betrachter, Konsument, Student oder Saisonarbeiter. Seine frühen Zeitungsartikel markieren den Beginn einer schriftstellerischen Karriere, die schliesslich Frischs eigene Bücher in die Schaufenster bringen wird.

 

Quellen

[1] Max Frisch: „Was bin ich?“ [1932]. Zuerst veröffentlicht in der Zeitschrift Schweizer Spiegel (1948). Eine kürzere Fassung erschien 1932 in der Zeitschrift Zürcher Student.

[2] Max Frisch: „Money“. In: Text+Kritik 47/48 (1975), S. 1-6, hier S. 1.

[3] Max Frisch: „Was bin ich?“ [1932].

[4] Max Frisch: „Puppe oder Mensch?“. In: Neue Zürcher Zeitung, 11.12.1932.

[5] Max Frisch: „Schaufenster-Rundgang. Musikalien und Instrumente“. In: Neue Zürcher Zeitung, 30.10.1934.

[6] Max Frisch: „Aus Schaufenstern“. In: Neue Zürcher Zeitung, 12.04.1932.

[7] Max Frisch: „Frohe Festtage: hinter dem Schalter gesehen“. In: Neue Zürcher Zeitung, 04.01.1933.

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