Das Baumvelo

Auf dem Fahrrad senkrecht die Stämme hochsausen, durchs Geäst preschen, bei urwalddichten Baumkronen sogar übers Blätterdach flitzen? Oder statt auf einem Metallgestell mit gummierten Rädern dahingleiten, auf stammquergesägten Holzscheiben holpern: alternativ, ökologisch, nachhaltig?

Hönggerberg, krummschäftige aus minderwertigem Samengut hervor

“Krummschäftige aus minderwertigem Samengut hervorgegangene Föhren in einem 25 jährigen Stangenholz”, Zürich 1938. Fotograf: P. Gugelmann/ETH, Geobotanisches Institut, Stiftung Rübel (ETH-Bibliothek, Bildarchiv, Dia_282-5084)

Nichts von alldem. Das Baumvelo kann zwar auf Bäume klettern, ist aber nur entfernt mit dem Fahrrad verwandt. Es dient als Fortbewegungsmittel beim Sammeln von Baumsaatgut.

In den 1940er Jahren stand es um die Holzqualität im Schweizer Wald manchenorts nicht zum besten. Forstfachleute führten den Schaden auf die jahrzehntelange Verwendung von ungeeigneten Samen und Jungpflanzen aus unkontrollierter Herkunft zurück. Künftig sollte das Saatgut tunlichst von sorgfältig ausgewählten Bäumen mit guten Standortqualitäten gewonnen werden. Wenn sie zur Samengewinnung nicht gefällt wurden, war eine mehrmalige Ernte von den wertvollen Samenlieferanten möglich.

Larix europaea, Aeste mit Zapfen, Laub soeben ausgeschlagen. Mon

“Larix europaea. Aeste mit Zapfen. Laub soeben ausgeschlagen” Montaccio bei Cademario (Tessin)1941. Fotograf: W. Lüdi/ ETH, Geobotanisches Institut, Stiftung Rübel (ETH-Bibliothek, Bildarchiv, Dia_282-5740)

Doch die Ernte in den Wipfeln stehender Bäume hatte ihre Tücken. Lange Leitern reichten bei hochwachsenden Arten nicht bis in die Kronen. Klettern war beschwerlich und gefährlich, denn nicht jeder Förster oder Waldarbeiter war ein Tarzan. Herkömmliche Steigeisen, wie sie zum Erklimmen hölzerner Leitungsmasten gebraucht wurden, verletzten mit scharfen Metalldornen die Baumrinde.

Im Auftrag der Eidgenössischen Anstalt für das forstliche Versuchswesen entwickelten daher die ETH Absolventen Jakob W. Zehnder (1902-1959), Spezialist für forstliche Arbeitstechnik, und Fritz Fischer (1914-1996), Forstgenetiker, zusammen mit der Schlosserei Schneebeli in Zürich-Oerlikon ein neues Steiggerät. Es bot dem Samensammler eine gewisse Sicherheit und schützte die Erntebäume vor gravierenden Verletzungen. Nach eingehender praktischer Prüfung der Neukonstruktion stellte der spätere ETH Forstprofessor Fritz Fischer die Kletterhilfe im November 1946 in der Fachpresse vor:

Baumvelo-klein

” ‘Baumvelo’, neues Steiggerät der Beratungsstelle für Walsamenbeschaffung”. Fotografie: Schweizerische Zeitschrift für Forstwesen, Nummer 11, 1946, Seite 519.

„Dieses Gerät besteht aus zwei voneinander unabhängigen Teilen für jedes Bein. Ein senkrecht angeordneter Hebelarm trägt ein Fussstück. Das Gewicht des Arbeiters wird vom Fussstück über den Hebelarm zunächst auf eine gegen den Stamm gepolsterte Stütze übertragen, welche als Drehpunkt wirkt und das übersetzte Gewicht auf ein Stahlband überträgt. Das Stahlband, dessen beide Enden in einem Klemmkopf festgehalten sind, ist verstellbar und erlaubt damit, die für jeden Durchmesser passende Weite einzustellen.“

Der Begriff „Baumvelo“ erscheint nur in der Bildunterschrift, nicht im Text des Artikels. Die Erfinder und die Konstruktionsfirma mochten wegen des Tretmechanismus an die Pedalen eines Fahrrads, des schweizerischen Velo, gedacht haben, ebenso an die Wortbedeutung von Velo aus Veloziped: Schnellfuss. Tatsächlich verspricht Fischer in den Merkblättern zu Samenernte-Methoden und in der Gebrauchsanweisung zur Neukonstruktion „ein bequemes, sicheres Klettern“ und „wenig ermüdendes Steigen“. Allerdings unter folgendem Vorbehalt: „Als Erntearbeiter eignen sich Leute unter 45 Jahren, die schwindelfrei sein müssen.“ Wie auch immer die eingängige Bezeichnung des neuen Steiggerätes entstanden sein mochte, der forstliche Schnellfuss wird auch heute noch in der Waldwirtschaft unter dem Namen Baumvelo verwendet.

Im Hochschularchiv der ETH Zürich an der ETH-Bibliothek sind biografische Unterlagen zu Jakob W. Zehnder und Fritz Fischer sowie ihren ETH Studien und Fischers Dozententätigkeit zu finden. Aber leider keine originalen Konstruktionszeichnungen, Manuskripte oder Korrespondenzen zum Baumvelo.

Fritz Fischer: Zur Entwicklung eines neuen Steiggerätes für die Waldsamenernte. In: Schweizerische Zeitschrift für Forstwesen, 97. Jahrgang, Nr. 11, November 1946, Bern, Seiten 518-520.

Fritz Fischer: Samenernte-Methoden. Merkblatt Nr. 7 der Beratungsstelle für Waldsamenbeschaffung. Eidg. Anstalt für das forstliche Versuchswesen. Separatdruck aus der Schweizerischen Zeitschrift für Forstwesen, Nr. 12, Jahrgang 1946.

Fritz Fischer: Steiggerät. Merkblatt Nr. 8 der Beratungsstelle für Waldsamenbeschaffung. Eidg. Anstalt für das forstliche Versuchswesen. Separatdruck aus der Schweizerischen Zeitschrift für Forstwesen, Nr. 8, Jahrgang 1947.

 

2 Gedanken zu „Das Baumvelo“

  1. Hochinteressanter und kurioser Beitrag, Frau Voegeli. Besonders gut gefällt mir die Assoziation am Anfang des Textes: “[…] bei urwalddichten Baumkronen sogar übers Blätterdach flitzen […]”. Da steigt die Spannung bei mir als Leserin fast bis ins Unermessliche bzw. bis in die Baumkrone.

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    • Die Landung auf dem Waldboden der Realität nach dem Sturz aus unermesslicher Baumkronenhöhe war hoffentlich sanft. Herzlichen Dank für den Kommentar. Es freut mich sehr, dass Ihnen der Beitrag gefällt.

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