150 Jahre Interessenorganisation der Schweizer Wirtschaft

2020 wurde der Dachverband der Schweizer Wirtschaft 150 Jahre alt. Die Archive von economiesuisse sowie seiner Vorgängerorganisationen befinden sich im Archiv für Zeitgeschichte der ETH Zürich. In seiner aktuellen Ausstellung präsentiert es Dokumente zur Verbandsgeschichte und greift Kernthemen der schweizerischen Wirtschaftspolitik auf – Pandemie-bedingt nun zum 151jährigen Bestehen…

«…es sollen sich die Industriellen der Schweiz zu Förderung der kommerziellen und gewerblichen Zwecke vereinigen.»

Gründungsaufruf der Glarner Handels-Commission, 30. März 1869 (AfZ IB Vorort-Archiv / 1.1.1.1.)

Koordination privater Wirtschaftsinteressen

Der «Schweizerischer Handels- und Industrie-Verein» (SHIV) wurde 1870 als ältester der vier grossen Schweizer Wirtschaftsverbände gegründet. Zuvor hatte der mit der Bundesverfassung von 1848 entstandene Wirtschaftsraum Schweiz einen Industrialisierungsschub erlebt, der von ländlichen Gegenden ausgegangen war.

Die Hauptakteure der auf Exporte ausgerichteten Textil- und Maschinenindustrie waren demokratisch orientiert und auslandserprobt. Sie drängten auf eine organisierte Interessenvertretung gegenüber den neuen Bundesbehörden.

Im Frühjahr 1869 rief die Glarner Handels-Commission in Abstimmung mit ihrem zürcherischen Pendant zum Zusammenschluss der kantonal und regional verankerten Handels- und Industrie-Vereinigungen auf. Noch im selben Jahr fand eine gesamtschweizerische Delegiertenversammlung statt. Sie bereitete die formelle Gründung des SHIV vor.

Vor diesem Hintergrund akzeptierte der Bundesrat am 13. Mai 1870 eine für die Schweizer Wirtschaftsgeschichte richtungsweisende Offerte. Nahm er doch das Angebot an, sich in «Fragen des Handels und der Industrie» von Akteuren der Privatwirtschaft beraten zu lassen.

Der Bundesrat dankt am 13. Mai 1870 für das Angebot des Vereins: «…haben Sie die Aufmerksamkeit, uns in Fragen des Handels und der Industrie Ihre Dienste zuvorkommend zur Verfügung zu stellen (AfZ IB Vorort-Archiv / 1.1.1.2.)

Damit war der Weg geebnet für eine regelmässige Kommunikation zwischen Politik und Wirtschaft. Letzterer ging es dabei schon gemäss Gründungsprotokoll des Verbands darum, «Interessen des gesammten schweizerischen Handelsstandes insbesondere bei den h. Eidg. Behörden zu vertreten.»

Die gebündelte Interessenvertretung von Industrie und Handel im Verkehr mit den Bundesbehörden orientierte sich an einem föderalistisch-regionalen Prinzip. Verbandsmitglieder waren Handelskammern und Industrie-Vereinigungen einzelner Wirtschaftsräume.

Die Präsidialbehörde sollte im Zweijahresturnus wechselnd jeweils von einer Organisation aus diesem Kreis bestellt werden. Nach dem Vorbild der Alten Eidgenossenschaft wurde sie «Vorort» genannt. Diese Bezeichnung etablierte sich bis zur Verbandsreform am Anfang des 21. Jahrhunderts für den lange mit der «Stimme der Wirtschaft» gleichgesetzten Gesamtverband.

Mitgestaltung der schweizerischen Wirtschaftspolitik

Wohlstand und soziale Sicherheit der Schweiz waren und sind eng mit der Ausgestaltung wirtschaftlicher Rahmenbedingungen und mit der Entwicklung der Handelsbeziehungen zum Ausland verknüpft. Ein entscheidender Faktor ist dabei die erfolgreiche innenpolitische Austarierung unterschiedlicher Positionen.

Auf den Wirtschaftsaufschwung des jungen Bundesstaates folgte im letzten Viertel des 19. Jahrhunderts eine erste Grosse Depression. Sie war begleitet von zunehmendem internationalem Konkurrenzdruck und Protektionismus. Die Mitbestimmung bei der Ausarbeitung von Zolltarifen und Handelsverträgen bildete deshalb eine wichtige Triebfeder bei der Gründung und lange einen Arbeitsschwerpunkt des SHIV.

Ein weiteres Aufgabengebiet war die Durchführung von Enqueten mit ausführlichen Fragebogen an die Mitglieder. Es festigte den Verband als politischen Akteur und förderte gleichzeitig die Entwicklung von Staatstätigkeit und Statistik im Bereich der Wirtschaft.

Der Direktor der Handelsabteilung, Jean Hotz, dankt bei seinem Rücktritt dem SHIV-Direktor für die «nie getrübte, harmonische Zusammenarbeit.» (AfZ IB Vorort-Archiv / 10.1.2.3.8.)

Die Zusammenarbeit von Wirtschaft und Bundesbehörden gestaltete sich als Balanceakt zwischen Wirtschaftsliberalismus und Staatsinterventionismus. Der SHIV gewann zunehmenden Einfluss in der Wirtschaftspolitik. Er engagierte sich in behördlichen Kommissionen und in Vernehmlassungsverfahren im Austausch mit seinen Mitgliedern, aber auch mit der Verwaltung, der Wissenschaft und anderen Verbänden.

Der SHIV bot dem Staat seine Expertise – etwa in der Aussenhandelspolitik – fortan aktiv an. Einzelne Spitzenvertreter des Verbands spielten als unverzichtbare Player in wichtigen Fragen und Geschäften über kürzere oder längere Perioden gar die Rolle eines «8. Bundesrats».

Eine Ausstellung aus dem Archiv

Die Ausstellung «Handel im Wandel – Vom Vorort zu economiesuisse (1870-2020)» des Archivs für Zeitgeschichte (7. Juni-16. Juli 2021) zeigt die Rolle und Funktionsweise des Verbands vom späten 19. Jahrhundert bis in die Gegenwart.

Anhand ausgesuchter Quellen beleuchtet sie zentrale Aufgaben und Themen sowie entscheidende Einschnitte der Verbandstätigkeit: Verbands-Lobbying, Aussenhandelsorganisation, Finanzpolitik, Multilateralismus und Bilateralismus und schliesslich die Fusion zu economiesuisse im Zuge der Globalisierung.

Zu sehen und hören sind digitalisierte Texte, Originaldokumente, Ausschnitte aus Zeitzeugengesprächen und historische Industrie- und Lehrfilme.

Zeitzeugeninterview (Ausschnitte) mit a. Bundesrat Hans Schaffner und a. Staatssekretär Paul Rudolf Jolles über das Freihandelsabkommen der Schweiz mit der EWG von 1972 und das Verhältnis von Bundestellen und Vorort (AfZ TA Kolloquien FFAfZ / 62)

Video der Ausstellungseröffnung vom 3. Juni 2021

Von den Ausstellungsmachern begleitete Rundgänge sind auf Voranmeldung unter afz@history.gess.ethz.ch jeweils mittwochs, 12.30 Uhr (9. Juni – 14. Juli 2021) oder nach Vereinbarung möglich.


Die Webversion der Ausstellung ist erreichbar unter: eco150expo.ethz.ch

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