Mehr Schein als Stein – Die Fassaden des ETH-Hauptgebäudes

Als Gustav Gull 1915 die Erweiterung der Eidgenössischen Technischen Hochschule in Zürich in Angriff nahm, fand er viele Fassadenbereiche vor, die durch Witterungseinflüsse stark in Mitleidenschaft gezogen worden waren. Der von Gottfried Semper verwendete, nur bedingt beständige Berner Sandstein aus dem Steinbruch von Ostermundigen platzte an vielen Stellen ab. Für die bevorstehende Renovierung und Erweiterung des Hauptgebäudes suchte man nach einem resistenteren Material von möglichst gleicher Struktur und Farbe.

Abgeplatzter Sandstein an der Westfassade des ETH-Hauptgebäudes, um 1921

Copyright: gta Archiv / ETH Zürich (Nachlass Gottfried Semper)

Abgeplatzter Sandstein an der oberen linken Ecke des Mittelrisalits der Westfassade, um 1921

Copyright: gta Archiv / ETH Zürich (Nachlass Gottfried Semper)

Da Gull keinen passenden Naturstein fand, versuchte er in mehreren Anläufen vergeblich, einen Kunststein (Betonwerkstein) in vergleichbarer Optik herstellen zu lassen. Erst eine mikroskopische Analyse des Sandsteingefüges im Mineralogischen Institut brachte Aufschluss und führte zur passenden Zusammensetzung des gesuchten Substituts: Portlandzement als Bindemittel, weisser Quarzsand von Benken als Gesteinskörnung und die Pigmente Chromoxidgrün und Ocker zur Färbung des Mörtels. Aus diesem Gemisch fertigte man nicht nur alle Steine für die Fassadenteile des östlichen Erweiterungsbaus an der Rämistrasse, auch sämtliche Hausteine der Semper’schen Fassaden wurden zurückgearbeitet und ersetzt: Das Hauptgebäude erhielt ein neues Kleid aus Kunststein. Zu diesem Zweck wurde es zwischen 1921 und 1924 komplett eingerüstet. Auf Pferdekarren wurden die Betonfertigteile herangeschafft und die korrodierten Sandsteine abtransportiert.

Eingerüstete Westfassade, um 1921

Copyright: gta Archiv / ETH Zürich (Nachlass Gustav Gull)

Die neu gefertigten Kunststeine bestehen aus zwei Schichten, einem gröberen, unpigmentierten Kern aus Portlandzement, Sand und Kies sowie einem feinkörnigen Vorsatz aus dem oben erwähnten Gemisch. Jedes Fassadenteil wurde massangefertigt und per Hand eingepasst. Zuvor wurden die Oberflächen der Fertigelemente aus Kunststein genauso bearbeitet wie Naturstein.

Ersatz der zurückgearbeiteten Sandsteinquader durch Kunststeinquader an der Südfassade, um 1921–1924

Copyright: gta Archiv / ETH Zürich (Nachlass Gottfried Semper)

Ersatz der zurückgearbeiteten Sandsteinquader durch Kunststeinquader an der Südfassade, um 1921–1924

Copyright: gta Archiv / ETH Zürich (Nachlass Gottfried Semper)

Welche Oberflächenbearbeitungen dabei zur Anwendung kamen, das konnte man vor einigen Wochen im Zuge eines Steinmetzworkshops anlässlich des Kulturerbetags der ETH Zürich erfahren, als Christian Bärlocher sachkundig eine Gruppe interessierter Teilnehmer um das Hauptgebäude führte und die verschiedenen Techniken erläuterte.

Kulturerbetag am 3. Juni 2018, Führung um das ETH-Hauptgebäude

Copyright: ETH-Bibliothek

Die mächtigen Kunststeinquader der Erdgeschossfassade des Hauptgebäudes sind überwiegend bossiert, punkt- oder bahnengespitzt, zum Teil wurden verschiedene Bearbeitungstechniken an einem Werkstück kombiniert. Berner Sandstein aus Ostermundigen, der bis vor etwa hundert Jahren das Hauptgebäude der ETH bekleidete, wird noch heute abgebaut. Muster desselben können jederzeit in der Materialsammlung auf dem Hönggerberg betrachtet und in die Hand genommen werden. Weiterführende Informationen zu Berner Sandstein und anderen im Text genannten Materialien finden sich in der Datenbank des Material-Archivs.

Literatur:

Dariz, P.: Forschungsfeld Kunststein: exemplarische Untersuchungen des Kunststeins an Gustav Gulls Erweiterung des Hauptgebäudes der Eidgenössischen Technischen Hochschule in Zürich, in: Restauro, Bd. 118, H. 7, 2012, S. 22–29.

Dariz, P.: Industrielle Bauornamentik in der Schweiz unter besonderer Berücksichtigung von Kunststein aus hochhydraulischen Gussmassen, Diss. ETH Nr. 22351, Zürich 2014, S. 187–193, 238.

Fröhlich, M.: Die Hauptetappen der Baugeschichte des ETH-Hauptgebäudes zwischen 1858 und 1930, in: Schweizerische Bauzeitung, Bd. 87, 1969, S. 755.

Gull, G.: Baubericht, in: Festschrift zum 75jährigen Bestehen der Eidgenössischen Technischen Hochschule in Zürich, Zürich 1930, S. 79–82.

Oechslin, W.: Die Bauten der ETH und die Stadt, in: Bauten für die ETH 1855–2005, Hochschulstadt Zürich, Zürich 2005, S. 142.

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