60 Jahre Thomas-Mann-Archiv der ETH Zürich – Ein literarischer Nachlass an der technisch-naturwissenschaftlichen Hochschule

In nur wenigen Zeilen vermeldete die Tagespresse am 13. August 1956, dass die Familie des ein Jahr zuvor, am 12. August 1955, in Zürich verstorbenen Thomas Mann der ETH Zürich den literarischen Nachlass und die Einrichtung des letzten Arbeitszimmers des Schriftstellers geschenkt hatte. Auch wurde bekannt gegeben, dass die ETH aus dieser Schenkung ein Thomas-Mann-Archiv einrichten und dieses voraussichtlich 1958 der Öffentlichkeit zugänglich machen werde.

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Presseartikel aus „Neue Zürcher Nachrichten, 13.08.1956 (ETH-Bibliothek TMA PA/1956/166).

Ein literarischer Nachlass für die technisch-naturwissenschaftliche Hochschule? Was zunächst etwas abwegig erscheint, findet seine Erklärung in der starken Bindung, die Thomas Mann zeitlebens zur Schweiz und besonders zu Zürich hatte und in der ehrenvollen Auszeichnung, welche die Verleihung des naturwissenschaftlichen Ehrendoktortitels durch die ETH anlässlich des 80. Geburtstags des Autors 1955 darstellte.

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Urkunde des ETH-Ehrendoktortitels für Thomas Mann, 1955 (ETH-Bibliothek TMA C-I.3-19).

Testamentarisch hatte Thomas Mann keine Verfügung zum Umgang mit seinem Nachlass getroffen, dessen Verbleib in der Schweiz war jedoch sein Wunsch. Noch waren nach der feierlichen Beisetzung des Verstorbenen auf dem Friedhof in Kilchberg keine zwei Wochen vergangen, als die Erben den Kontakt zum damaligen ETH-Rektor, dem Germanisten Karl Schmid, suchten, um eine Schenkung des Nachlasses anzubahnen. Auf das für den Rektor überraschende Angebot reagierte dieser umgehend mit einem Schreiben an die Witwe Katia Mann:

„Dass Sie diejenige Stätte, an der in Zukunft das Lebenswerk Ihres Gatten […] betreut werden sollte, in der Schweiz sehen, ehrt unser Land, dem Ihr Gatte, wie wir Schweizer immer fast beschämt feststellen durften, eine so starke und dauernde Liebe entgegengebracht hat. Dass Sie in erster Linie an Zürich denken, wird all die Tausende, die Thomas Mann immer wieder und bei den mannigfachsten Gelegenheiten in seiner Verbundenheit mit dieser Stadt erleben durften, aufs tiefste berühren.“

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Brief Karl Schmid an Katia Mann, 31.08.1955 (ETH-Bibliothek TMA B-IV-SCHMIDC-2).

Im November 1955 präzisierten die Erben gegenüber Karl Schmid die Bedingungen, welche an die Schenkung geknüpft waren, und teilten ihm ihre Vorstellungen zu der zu errichtenden Thomas-Mann-Institution mit:

„Alles oben Erwähnte (Mobiliar und literarischer Nachlass) […] soll[ ] beisammen behalten werden in einigen Räumen, die den Charakter eines Thomas Mann-Instituts besässen. […] Die ETH soll für eine würdige Unterbringung und Aufstellung des gesamten Materials besorgt sein und sich dazu verpflichten, dass das Institut allen ernsthaften wissenschaftlichen Interessenten offen steht. Es soll dieses Institut den Charakter einer Arbeitsstätte und nicht denjenigen eines Museums besitzen.“ (Zitiert nach Sprecher/Im Geiste S. 103).

Bis zur Pressemeldung im August 1956 hatten die Familie Mann und der das Vorhaben vorantreibende Karl Schmid einige juristische und bürokratische Hürden zu nehmen. Die Beratung der Schenkung an sich – Fragen bezüglich der Rechtsform der zu gründenden Institution, der Finanzierung und der Autorenrechte –, der Entwurf des Schenkungsvertrags und dessen Annahme beschäftigte mehrere Instanzen: die ETH-Schulleitung, den Schweizerischen Schulrat, das eidgenössische Departement des Innern, das Finanz- und Zolldepartement und zuletzt den Bundesrat. Gegenüber seinem Freund Richard Schweizer, seinerseits ein Familienfreund der Manns, hielt Rektor Schmid im März 1956 in Sachen Schenkungsvertrag metaphorisch fest: „[ich verschone Dich] mit einem Referat über die neueste Kapelle auf dem Stationenweg, der ad montem sacrum confoederationis Helveticae führt“ (Zitiert nach Schmid/Briefe I, S. 472).

Im Sommer 1956 waren aber alle Formalitäten geklärt und der Bundesrat hiess den Schenkungsvertrag zur Überlassung des Nachlasses Thomas Manns an die ETH mit Beschluss vom 27. Juli 1956 gut.

Am 31. Oktober 1956 nahm die ETH-Bibliothek die Schenkung physisch in Empfang und brachte sie zunächst provisorisch im Dachgeschoss des ETH-Hauptgebäudes unter. Im Jahresbericht der ETH-Bibliothek für 1956 kommentierte der Bibliotheksdirektor und erster Leiter des Thomas-Mann-Archivs, Paul Scherrer, zur Unterbringung des Neuzugangs:

 „Die einzige Möglichkeit, den Nachlass vorläufig aufzustellen, bot der Raum der ‚Kartensammlung‘. Mit geringen Mitteln liess sich ein ungefähr der Grösse des Dichter-Schreibzimmers in Kilchberg entsprechender Teil der Kartensammlung durch den Einsatz von Pavatexwänden abschliessen und zu einem Gedenkzimmer ausgestalten, welches den diesem kostbaren Erbe gebührenden würdigen und intimen Rahmen bietet. Desgleichen wurde im Vorraum mit vorhandenen Tisch- und Wandvitrinen eine kleine Ausstellung von Gedenkstücken […] eingerichtet.“

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Standort provisorisches TMA, Grundriss des Dachgeschosses des ETH-Hauptgebäudes ca. 1950 (Schweizerische Bauzeitung Nr. 70 (1952), S. 199).

Thomas Mann-Zimmer in der ETH-Bibliothek

 Nachgebildetes Arbeitszimmer Thomas Manns im ETH-Hauptgebäude, 1956 (ETH-Bibliothek TMA_4706).

Ein Jahr später konnte Paul Scherrer im Jahresbericht der ETH-Bibliothek für 1957 festhalten, dass

„die jüngste Abteilung der ETH-Bibliothek, das im Oktober 1956 eingegliederte Thomas Mann-Archiv […] sich gemäss der den Institutionen solchen Ranges innewohnenden Eigengesetzlichkeit unerwartet rasch und lebhaft entwickelt [hat]. Durch die zahlreichen, uns von der Familie des Dichters zugewiesenen Besucher aus verschiedenen Ländern und Kontinenten, deren Eindrücke und Berichte dann wieder neue Interessenten anzogen, ist es schon heute ins internationale Blickfeld getreten. […]

Die Angliederung des Thomas-Mann-Archivs rundet den Bibliotheksbesitz nach der weltanschaulichen Seite ab und hebt ihn damit endgültig aus der Sphäre einer bloss utilitarischen Special Library in den Rang einer Hochschulbibliothek, die sich ihren ältern Schwestern, den Universitätsbibliotheken, ebenbürtig zur Seite stellen darf.“

Der Archivleiter betonte, dass das Thomas-Mann-Archiv als Hauptaufgabe habe, Voraussetzungen für die literaturgeschichtliche Auseinandersetzung mit dem Werk Thomas Manns im Kontext seiner Entstehungszeit zu schaffen – denn die Archivbestände enthielten weit mehr „als blossen Stoff für biographische Schnüffeleien oder philologisch-quellenkritische Nebensächlichkeiten“ (Zitiert nach Blätter der TMG I, S. 8). Gleich nach Eingang der Bestände wurde darum mit der Herstellung alphabetischer, systematischer und chronologischer Kataloge der überlieferten Manuskripte, Briefe und Bücher begonnen. Dabei gaben offenbar Signierungs- und Aufstellungsfragen bei der Privatbibliothek Thomas Manns zu Diskussionen Anlass, oder wie es wiederum Paul Scherrer formulierte: der Ausgleich zwischen „unabdingbaren Forderungen amtlicher Ordnung und den berechtigten Ansprüchen von in künstlerischen Fragen delikaten Dichterfreunden. Amtliche Ordnung verlangt Eigentumssicherung durch Besitzvermerke, Festlegung der Aufstellung durch Standortsnummern […].“ (Zitiert nach Scherrer/Bibliophile Arbeit, 464, Spalte 9). Da die Nachlassbestände, wie es die Bestimmung der Erben war, beforscht werden und nicht musealen Charakter haben sollten, mussten sie für die Nutzung entsprechend gerüstet sein.

Eine offizielle Eröffnung des Provisoriums im ETH-Hauptgebäude fand nicht statt. Allerdings erschienen ab 1958 mehrmals grössere Pressebeiträge über das Thomas-Mann-Archiv und mit einer Art „Fact Sheet“ wurde Werbung in eigener Sache gemacht.

06-PA-1958-58

Presseartikel aus „Zürcher Woche“, 10.07.1958, S. 7 (ETH-Bibliothek TMA PA/1958/58).

 

07-PA-1958-74A

Presseartikel aus „Tages-Anzeiger“, 09.08.1958 (ETH-Bibliothek TMA PA/958/74A).

 

08-PA-1959-26

 Presseartikel aus „Maske und Muse“, Beilage der „Basler Nachrichten“, 07./08.02.1959 (ETH-Bibliothek TMA PA/1959/26).

09-TMA-Info(TML-bq-189)

Informationsblatt „Thomas-Mann-Archiv der Bibliothek der Eidgenössischen Technischen Hochschule in Zürich“, Mai 1958 (ETH-Bibliothek TMA TML-bq 189).

Die öffentliche, feierliche Einweihung des Thomas-Mann-Archivs fand nach dem Bezug grosszügigerer Räumlichkeiten im der Universität Zürich gehörenden Bodmerhaus im Februar 1961 statt. An diesem Standort sollte das Thomas-Mann-Archiv bis Juni 2016 untergebracht sein. Da das Bodmerhaus nun saniert werden soll und die Universität das Gebäude anschliessend anderweitig nutzen will, schliesst sich für das Archiv just im Jubiläumsjahr ein Kreis: Anfang Juli 2016 hat es auf dem Campus Hönggerberg erneut ein Provisorium bezogen. Mittelfristig ist ein neuer fester Standort im Hauptgebäude der ETH Zürich geplant.

Zur Feier des 60-Jahr-Jubiläums führte die ETH-Bibliothek am 1. September 2016 in der Semper-Aula des ETH-Hauptgebäudes eine internationale Tagung durch.

 

Literatur

Blätter der Thomas-Mann-Gesellschaft Zürich Nr. 1 (1958), Zürich 1958.

ETH-Bibliothek: Bericht und Rechnung über das Jahr 1956, Zürich 1957 [Jahresbericht 1956].

ETH-Bibliothek: Bericht und Rechnung über das Jahr 1957, Zürich 1958 [Jahresbericht 1957].

Rüdin, Sylvia (Hg.): Karl Schmid. Gesammelte Briefe, Bd. 1, Zürich 2000.

Scherrer Paul: Bibliophile Arbeit im Thomas-Mann-Archiv : Lichtbilder-Vortrag anlässlich des Ersten internationalen Bibliophilen-Kongresses in München am 30. Mai 1959, Berlin 1959.

Sprecher, Thomas: Im Geiste der Genauigkeit. Das Thomas-Mann-Archiv der ETH Zürich 1956-2006, Frankfurt am Main 2006.

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