Sternschnuppe mit Dampfdruck – Die Habilitation von Otto Stern an der ETH Zürich

Albert Einstein sass seit einem Jahr vereinsamt auf seinem Physiklehrstuhl an der Deutschen Universität in Prag, wo er sich mit niemandem über die ihn interessierenden Themen austauschen konnte. Da kam ihm gelegen, dass der frisch doktorierte physikalische Chemiker Otto Stern aus Breslau sich bei ihm weiterbilden wollte.

Stern erwies sich als brauchbarer Gesprächspartner und Korrektor mathematischer Details in physikalischen Formeln. Einstein zeigte sich dafür erkenntlich, als er im Herbst 1912 dem Ruf der ETH nach Zürich folgte. Er machte zur Bedingung, dass Stern ebenfalls eine Anstellung als sein persönlicher wissenschaftlicher Mitarbeiter erhielt.

Habilitationsgesuch von Otto Stern, Zürich 26. Juni 1913 (ETH-Bibliothek, Hochschularchiv, SR3 1913 / Nr. 677)

Stern erarbeitete in dieser Zeit eine elegante Berechnung des Dampfdrucks fester Stoffe und der chemischen Konstante von Gasen. Ein Problem, für das Otto Sackur,  sein Doktorvater an der Universität Breslau, 1911 eine zwar praktikable, aber theoretisch zweifelhafte Lösung präsentiert hatte. Einstein war von Sterns neuer besserer Methode so begeistert, dass er seinem Mitarbeiter zur sofortigen Habilitation riet. So reichte Stern im Sommer 1913 das entsprechende Gesuch ein:

Zürich, d. 26. Juni 1913

An den eidgenössischen Schulrat

Hierdurch bitte ich ergebenst darum, mich an der allgemeinen Abteilung der Eidgenössischen Technischen Hochschule als Privatdozenten für das Fach der physikalischen Chemie zuzulassen. Beschreibung des Lebenslaufes, Ausweise über meine Studien, sowie meine bisherigen Publikationen liegen bei. Die Arbeit „Zur kinetischen Theorie des Dampfdruckes einatomiger fester Stoffe und über die Entropiekonstante einatomiger Gase“ bitte ich als Habilitationsschrift anzunehmen.

Hochachtungsvoll

Ergebenst

Otto Stern

Dr. phil.

Zürich, Bolleystrasse 30 I

Der Sekretär des Schulrates überwies fünf Tage später, am 1. Juli 1913, das Gesuch zur Begutachtung an den Vorstand der Abteilung IX für Fachlehrer in Naturwissenschaften. Professor Johannes Früh, Vorsteher der Abteilung IX, erbat am 7. Juli 1913 von den Physikprofessoren  Albert Einstein und Pierre Weiss sowie von Chemieprofessor Emil Baur Gutachten für die Semesterkonferenz der Abteilung und den Schweizerischen Schulrat

[…] namentlich hinsichtlich wissenschaftlicher Reife, hinreichender Ausweise für die Habilitation (siehe Eingabe des Petenten vom 26. Juni 13) u. die Bedürfnisfrage […] Wann die Semester Conferenz stattfinden kann, weiss ich nicht. Wenn immer möglich (wegen Exkursion des Hr. Aktuars) schon am 21. Juli!

Eile war also geboten. Als erster meldete sich Einstein am 15. Juli 1913. Er hob die wissenschaftliche Bedeutung von Sterns Leistung hervor, die eine ungewöhnliche Begabung verrate, erwähnte die didaktische und charakterliche Eignung für eine Lehrtätigkeit und wies zum Schluss darauf hin, dass er selber zusammen mit dem Kollegen Weiss das Habilitationsgesuch veranlasst habe. Weiss bestätigte in einem knappen Schreiben am Tag darauf Einsteins Einschätzung des Kandidaten.

Noch einen Tag später, am 17. Juli 1913, kritisierte Baur, in dessen Disziplin physikalische Chemie der Gesuchsteller sich zu habilitieren wünschte, das überstürzte Verfahren:

Gutachten von Emil Baur, Professor für physikalische Chemie und Elektrochemie an der ETH, zum Habilitationsgesuch von Otto Stern (ETH-Bibliothek, Hochschularchiv, SR3 1913, Ad. 677/No.5)

 

Herr Stern hat mit seiner neuen Dampfdruckformel einen guten Start gemacht, Den Befähigungsnachweis hat er damit zweifellos erbracht. Die Habilitationschrift, die er uns vorlegt, ist freilich nur kurz; es wäre interessant gewesen, wenn er die Gelegenheit benutzt hätte, die ganze Frage der Dampfdruckformeln monographisch zu behandeln. Der Wert seiner eigenen Entdeckung hätte dabei erst voll zur Geltung gebracht werden können.

Herr Stern hat davon Abstand genommen; ich denke, dass wir das wohl entschuldigen müssen im Hinblick darauf, dass er von den Herren Physikern ausdrücklich dazu angehalten worden ist, seine Habilitation schleunig zu betreiben.

Die Kritik war durchaus berechtigt, wie sich erst Jahrzehnte später herausstellen sollte. Womöglich hätte sich Stern bei einer ausführlichen Dokumentierung oder spätestens nach einer sorgfältigen Prüfung durch die Gutachter mit dem gewählten Thema gar nicht habilitieren können. Im damaligen Moment wollte sich Baur jedoch einer Habilitierung nicht widersetzen, sondern skizzierte ein bestimmtes Tätigkeitsgebiet, in welchem Stern ihn bei der Lehre entlasten konnte.

Die drei Gutachten gingen daraufhin mit einer positiven Empfehlung der Abteilungskonferenz am 22. Juli 1913 an den Schulratspräsidenten. Auf dessen Antrag wurde das Geschäft in der Schulratssitzung vom 2. August 1913 behandelt und Otto Stern zum Privatdozenten für physikalische Chemie ernannt.

Die zügige Erledigung des Gesuchs war wohl nicht zuletzt dem Umstand zu verdanken, dass der berühmte Einstein als treibende Kraft dahinter steckte. Ein früher eingereichter Habilitationsantrag eines anderen Kandidaten wurde nämlich in der gleichen Schulratssitzung abgelehnt mit der Begründung, dass das angestrebte Lehrgebiet von den ETH-Dozenten bereits genügend abgedeckt sei und die Habilitationsschrift Lücken aufweise, die vor ihrer Einreichung hätten geschlossen werden sollen.

Am Physikalischen Institut der ETH, 1913. Zweiter von links Otto Stern, dritter von links Albert Einstein (ETH-Bibliothek, Bildarchiv, Portr_10750)

Kaum war Stern habilitiert und hatte während zweier Semester Vorlesungen angeboten, hielt ihn nichts länger in Zürich. Einstein, dessen anregende Gesellschaft er vermisste, war nach Berlin abgeworben worden. Als auch Stern kurz danach von Fritz Haber, der die Dampfdruckarbeit „ausgezeichnet“ fand, nach Berlin eingeladen wurde, liess er sich für das Wintersemester 1914/15 beurlauben. Zurück in der Heimat meldete er sich zum Kriegsdienst, habilitierte sich 1915 an der Universität Frankfurt für theoretische Physik, „um bei den augenblicklichen Zeitverhältnissen eine Stellung in meinem Vaterlande zu haben“, und ersuchte deswegen im November desselben Jahres um Entlassung von der ETH.

Anlässlich eines Besuches in Zürich 1961 erzählte der inzwischen zum Nobelpreisträger avancierte Otto Stern, nach seiner Emigration in die USA 1933 habe ein dortiger Kollege ihn darauf aufmerksam gemacht, dass die Dampfdruckformel seiner Habilitationsschrift schon lange vor ihm vom deutschen Physiker Gustav Mie gefunden und in Wien veröffentlicht worden sei.

 

Nach- und Hinweise

Habilitationsunterlagen Otto Stern im Hochschularchiv der ETH Zürich an der ETH-Bibliothek (ETH-Bibliothek, Hochschularchiv, SR3 1913/Nr. 677 mit Addenda).

Protokolle des Sitzungen des Schweizerischen Schulrats und Verfügungen des Präsidenten der ETH in Schulratsprotokolle online.

Otto Stern, Gespräche mit Res Jost über Albert Einstein und den eigenen Werdegang am 25. November und 2. Dezember 1961 in der Pension Tiefenau in Zürich. Abschrift der Tonaufzeichnung  (ETH-Bibliothek, Hochschularchiv, Hs 1008:8)

Albert Einstein Collected Papers. The Swiss Years: Correspondence, 1902-1914. Volume 5, Princeton 1993. Darin unter anderem S. 539 Haber an Einstein 22. Juli 1913 über Otto Stern: „Sterns Arbeit ist eine ausgezeichnete Leistung“.

Leben von Otto Stern: ETH-Bibliothek Kurzporträt und Wikipedia

1 Gedanke zu „Sternschnuppe mit Dampfdruck – Die Habilitation von Otto Stern an der ETH Zürich“

  1. – gut gab’s keinen “shitsturm” und Dampf aus dem sog. internet, als Imigrant heute und hier wäre das nicht gut gekommen, übersehen ist ja so eine Sache, wie jeweils zu lesen ist bei aller Arten Geschriebenem.

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