Die ETH – eine sozialrevolutionäre Brutstätte? Die russischen Anfänge des Frauenstudiums

Als Anna Rosenstein im Alter von 18 Jahren mit väterlicher Erlaubnis ans Eidgenössische Polytechnikum kam, war sie erst die zweite Frau, die die anspruchsvolle Aufnahmeprüfung bestanden hatte und zum Diplomstudium zugelassen wurde. Ein Jahr zuvor, 1871, hatte Nadina Smetzky (Nadežda Smezkaja) aus Moskau ihr Maschinenbaustudium begonnen.

Die erste Welle weiblicher Studierender an der ETH wurde klar von Frauen aus dem Zarenreich dominiert.

Brief von Moisej Rosenstein, Getreidehändler jüdischer Herkunft in Simpheropol (Krim), an die Direktion des Polytechnikums,
13. September 1872  (ETH-Bibliothek, Hochschularchiv, EZ-REK 1/1/2809 Matrikel Anna Rosenstein)

Das Milieu, in dem die russischen Pionierinnen des Frauenstudiums an der Universität Zürich lebten, ist inzwischen gut erforscht. Doch wie verhielt es sich mit den sogenannten „Kosackenpferdchen“ an der Schwester-Hochschule?

Auch am Polytechnikum stammten die ersten Frauen vornehmlich aus dem russischen Kleinadel oder vermögenden Kaufmannsfamilien. Einige von ihnen beteiligten sich in Zürich aktiv an den politischen Diskussionen im radikalen Milieu der russischen Emigranten und pflegten persönlichen Kontakt zum international bekannten Anarchisten Michail Bakunin (1814-1876), der wiederholt nach Zürich kam. Am Polytechnikum studierten die ersten Frauen ganz unterschiedliche Fächer wie Maschinenbau, Bauingenieurwesen, Landwirtschaft, Naturwissenschaften, Chemie und Pharmazie – Studienrichtungen, die für russische Studentinnen in der Schweiz eher untypisch waren, da Frauen in Russland nur gerade im medizinischen oder schulischen Bereich überhaupt beruflich tätig sein durften.

Die Freifächer-Abteilung der ETH bot den Studierenden die Gelegenheit, ihr Wissen über europäische Geschichte und wirtschaftliche Zusammenhänge zu erweitern. Besonders die Vorlesung „Die sociale Frage“ des sozialliberalen Nationalökonomen Prof. Karl Viktor Böhmert (1829-1918), der sich auch in der Öffentlichkeit für das Frauenstudium einsetzte, scheint die Studentinnen interessiert zu haben.

Nadežda Nikolaevna Smezkaja (1849-1905),
die erste Diplomstudentin der ETH Zürich,
Porträt aus dem Jahr 1877  (Quelle: bibliophilka.shpl.ru)

Leider wissen wir wenig über den weiteren Lebensweg der Pionierinnen des Frauenstudiums an der ETH. Lebensspuren von Marija Rozenstejn (Schwägerin von Anna), Dr. Marie Stamo, Sofija Čaijkovskaja-Lavrova, Concordia Istomine sind bisher nicht aufzufinden. Über Rosalie Feldmann aus Odessa wissen wir, dass sie ihr Chemiestudium 1876 abgebrochen und sich kurz darauf in Zürich vergiftet hat.

Allerdings ist über drei Studentinnen etwas mehr zu erfahren, da sie in der Geschichte der Russischen Revolution oder der europäischen Arbeiterbewegung eine gewisse Rolle gespielt haben, wenn sie auch nicht so berühmt-berüchtigt geworden sind wie die Attentäterin Wera Figner, ihre Kollegin von der Universität Zürich. Die Lebensläufe der drei Studentinnen Nadežda Smezkaja, Anna Rozenstejn und Maria Filippovna Kovalik waren geprägt von politischem Kampf, Gefangenschaft und Flucht. Die hartnäckige Verfolgung ihrer sozialrevolutionären Ziele verlangte ihnen grosse persönliche Opfer ab, manchmal griffen sie dabei auch zu ethisch fragwürdigen Mitteln.

Nadežda Smezkaja stammte aus Moskau und war die Tochter eines adeligen Offiziers. Nach kurzem Medizinstudium an der Universität Zürich wechselte sie ans Polytechnikum, um Maschinenbau zu studieren. Im Alter von 24 Jahren kehrte sie 1873 nach Russland zurück, wo sie unter der bäuerlichen Bevölkerung im Nordwesten sozialrevolutionäre Propaganda betrieb, bis sie verhaftet wurde. 1876 gelang ihr die Flucht nach Italien, doch kehrte sie kurz darauf nach Petersburg zurück, wo sie untertauchte. Später reiste in den Ural, um dort einen Volksaufstand zu unterstützten, wurde wieder verhaftet und nach Sibirien verbannt. Zwar gelang ihr auch hier nochmals die Flucht, doch nur für kurze Zeit. In der Verbannung in Sibirien heiratete sie ihren Mit-Häftling, den polnischen Schriftsteller Adam Szymanski (1852-1916). Da sich ihr Gesundheitszustand zunehmend verschlechterte, wurde sie aus der Verbannung entlassen, doch nur zwei Jahre später in eine psychiatrische Heilanstalt eingewiesen, wo sie 1905 im Alter von 46 Jahren verstarb.

Anna Rozenstejn/Kuliscioff (1854-1925), die zweite Studentin an der ETH Zürich,
Porträt aus dem Jahr 1886 (Quelle: Scienzaa2voci.it)

Anna Rozenstejn/Kuliscioff studierte an der Bauschule der ETH und kehrte wie ihre Studienkollegin Smezkaja 1873 (als Reaktion auf einen Erlass des Zaren) nach Russland zurück, wo sie sich in der sozialrevolutionären Bewegung engagierte. Mit ihrem Ehemann, den sie in Zürich kennengelernt hatte, war sie in die Ermordung eines Polizisten verwickelt. Während es ihr jedoch gelang unterzutauchen, wurde ihr Mann verhaftet und starb im Gefängnis. 1878 flüchtete sie nach Frankreich, wo sie den Namen Kuliscioff annahm. Kurze Zeit studierte sie an der Universität Bern, wechselte dann nach Neapel, wo sie 1886 als erste Frau mit einer Dissertation ihr Medizinstudium abschloss. In Mailand praktizierte sie als Frauenärztin, später gab sie eine sozialistische Zeitschrift heraus und war massgeblich an der Gründung der Sozialistischen Partei Italiens beteiligt. Als militante Feministin setzte sie sich insbesondere für das Frauenwahlrecht ein und verbüsste wegen ihrer Teilnahme an Streiks und Demonstrationen mehrere Haftstrafen. Sie starb 1925 in Mailand an Tuberkulose.

Titelblatt der ersten von einer Frau an der ETH überlieferten Diplomarbeit, 1877,
Maria Kovalik: „Über den Einfluss der Verkehrszustände auf die Art der Einrichtung & des Betriebes
der Viehhaltung in der Landwirthschaft“ (ETH-Bibliothek, Hochschularchiv, Dipl-L 1)

Maria Filippovna Kovalik war in der heutigen Ukraine als Tochter eines Offiziers und Gutsbesitzers zur Welt gekommen. Sie kam erst im Alter von 30 Jahren ans Polytechnikum, war also um einiges älter als ihre Studienkolleginnen. Nach sieben Semestern schloss sie ihr Landwirtschaftsstudium mit einem Diplom erfolgreich ab. Gleich nach Studienabschluss reiste sie 1877 nach Russland, wo sie zwei Jahre lang unter Polizeibeobachtung stand, da sie verdächtigt wurde, terroristische Aktionen vorzubereiten. 1878 wurde sie verhaftet und nach Sibirien verbannt, doch gelang ihr 1887 die Flucht. Bis 1906 lebte sie in der Schweiz und in Frankreich, kehrte dann jedoch nach einer Amnestie ins Zarenreich zurück. Sie starb in den 1920er Jahren in Minsk.

Weiterführende Informationen

Matrikelsammlung der Studierenden im Hochschularchiv der ETH Zürich

Ljašenko, L. M. (Hg.): Dejateli revoljucionnogo dviženija v Rossii. Vtoraja polovina 1850-ch – konec 1890-ch gg. Moskau 2009

Fondazione Anna Kuliscioff

Franziska Rogger, Monika Bankowski: „Ganz Europa blickt auf uns!“ Das schweizerische Frauenstudium und seine russischen Pionierinnen. Baden 2010

Verein Feministische Wissenschaft Schweiz (Hg.): „Ebenso neu als kühn“: 120 Jahre Frauenstudium an der Universität Zürich, Zürich 1988

2 Gedanken zu „Die ETH – eine sozialrevolutionäre Brutstätte? Die russischen Anfänge des Frauenstudiums“

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