Kreuzblütler im digitalen Zeitalter

Was sind Kreuzblütler? Wo kommen sie vor? Und welche Stellung nehmen sie in der heutigen Forschung ein? Die digitalisierten Bestände der Vereinigten Herbarien der Universität (Z) und ETH (ZT) Zürich bieten einige Antworten.

Kreuzblütler (auf Latein Brassicaceae) vereinen sowohl kulinarische Kostbarkeiten wie Grünkohl, Rucola, Brunnenkresse, Senf oder Wasabi, als auch Weltstars der Pflanzengenetik, die aus dem Alltag eines Forschers nicht mehr wegzudenken sind. Die einen schmecken scharf, die anderen entfalten einen delikaten Knoblauch-Geschmack, doch alle besitzen in ihren Zellen schwefelhaltige Senfölglycoside, die bei Beschädigung befreit werden und somit als chemische Waffen gegen Pflanzenfresser (z. B. phytophage Insekten) eingesetzt werden können.  Die Acker-Schmalwand (Arabidopsis thaliana) erreichte einen besonderen Ruhm in den Naturwissenschaften, weil sie kleinwüchsig ist, ein winziges Genom besitzt, weltweit vorkommt und ihren Lebenszyklus innerhalb von zwei Monaten durchführen kann, allesamt ideale Eigenschaften für grosse Laborexperimente.

Die Vereinigten Herbarien Z+ZT beherbergen knapp 82’000 Belege von Brassicaceae aus 125 verschiedenen Ländern, doch 55% der Sammlung stammt aus der Schweiz. Auf nationaler Ebene wurden die meisten Aufsammlungen in den Kantonen Graubünden, Wallis und Zürich gesammelt (© A. Guggisberg, unveröffentlichte Daten).

Die Kreuzblütler umfassen ungefähr 4’000, meist krautige Arten, die insbesondere in der gemässigten Zone der Nordhalbkugel vorkommen. Mit insgesamt 1’626 Arten beherbergt die Sammlung Z+ZT mehr als ein Drittel der weltweiten Artenvielfalt. Morphologisch sind Brassicaceae leicht an ihren vier freien, kreuzförmig angeordneten Kronblättern erkennbar, die vier lange und zwei kurze Staubblätter umfassen, und deshalb 1789 von Antoine-Laurent de Jussieu (1748-1836) erstmals als Cruciferae umschrieben wurden. Ihre charakteristische Streufrucht namens Schote ist hingegen sehr variabel und beim Bestimmen von grosser Bedeutung. Man sollte dabei stets auf das Verhältnis zwischen Breite und Länge der Früchte achten, und bei sogenannten kurzen Schötchen die Stellung der Scheidewand zur Fruchtfläche in Augenschein nehmen.

Typischer Blütenaufbau (links) bei Heliophila coronopifolia (© G. Mansion, 24.08.2017), sowie unterschiedliche Fruchtformen zwischen Alyssoides utricularia (in der Mitte; © A. Guggisberg, 29.04.2015) und Brassica napus (rechts; © G. Mansion, 08.07.2019).

Naturhistorische Sammlungen verschaffen Einblicke in die Verbreitung der biologischen Vielfalt in Raum und Zeit, sei es für taxonomische Untersuchungen oder die Erstellung von Florenwerken. Belege des Kerguelenkohls (Pringlea antiscorbutica) aus dem namensgebenden, subantarktischen Inselarchipel erweisen sich als die isoliertesten Herkunftsorte der Sammlung Z+ZT. Nach ihrer Entdeckung 1776 während der dritte Reise von James Cook (1728-1779) wurde diese Pflanze massenweise für deren hohen Gehalt an Vitamin C als Bekämpfung gegen Skorbut von Seefahrern, u.a. James Clark Ross (1800-1862) auf seiner Expedition in die Antarktis, gesammelt. Heutzutage ist sie durch die Einfuhr von Kaninchen und die Klimaerwärmung stark bedroht, doch der kürzliche Einzug ihres Habitats auf die Liste der UNESCO-Weltnaturerbestätten verleiht Hoffnung.

Beleg von Pringlea antiscorbutica aus dem Kerguelen-Archipel (links) mit vergrösserter Etikette (in der Mitte; Z-000164352, Vereinigte Herbarien Z+ZT, CC BY-SA 4.0). Die Zeichnung (rechts) stammt von Joseph Dalton Hooker (1817-1911), der diese Art 1844 zu Ehren des britischen Militärarztes John Pringle (1707-1782) benannt hat (J.D. Hooker, 1844, CC0).

Der obige Beleg wurde 1952 vom schweizerisch-französischen Geologen Edgar Aubert de la Rüe (1901-1991) während seiner vierte Reise in die Französischen Süd- und Antarktisgebiete gesammelt und zeugt vom gleichzeitig hohem historischen Wert solcher Herbarbelege. Auch der Schweizer Geologe Arnold Heim (1882-1965) hat für die Vereinigten Herbarien Z+ZT Pflanzen gepresst als er 1936 zusammen mit Augusto Gansser (1910-2012) die erste schweizerische Himalaya-Expedition durchführte. In seinem Buch Thron der Götter (S. 69) erzählt er, wie überrascht er war, Ende Mai „unweit von Zeltplatz bei 5100 Meter schon einige Pflänzchen am Rande der Schneewassertümpel“ blühend anzutreffen. Solms-laubachia himalayensis wurde vor der Besteigung seines ersten Sechstausenders gesammelt, doch die Art zählt unterdessen mit 7’756 Meter zu den weltweiten Höhenrekorden unter den Gefässpflanzen.

Beleg von Solms-laubachia himalayensis aus dem Himalaya-Gebirge (links) mit vergrösserter Ansicht (rechts; Z-000169458, Vereinigte Herbarien Z+ZT, CC BY-SA 4.0). Das Schwarzweissfoto (in der Mitte) veranschaulicht das Lager am Tinkar Lipu Pass, woher die Pflanzen stammen (A. Heim, 26.05.1936; ETH-Bibliothek Zürich, Bildarchiv, Dia_022-010, CC BY-SA 4.0).

Dank neuesten Sequenziertechnologien erleben Herbarien heutzutage vermehrte Aufmerksamkeit seitens der Evolutionsbiologen, weil nun aus klitzekleinen Gewebeproben genetische Untersuchungen unternommen werden können. Gerade im Rahmen von Naturschutzprojekten erteilen die über Jahrzehnte gesammelten Herbarbelege aufschlussreiche Informationen zur genetische Veränderungen einer Pflanzenart in Raum und Zeit. Die Fiederrauke (Murbeckiella pinnatifida) stellt ein besonders günstiges Beispiel für ein solch genetisches Monitoring dar. Sie kommt in der Schweiz ausschliesslich oberhalb 2’000 Meter auf feuchten Silikatschuttfluren in den Westalpen vor und wurde deshalb in den letzten zwei Jahrhunderten wiederholt an denselben Standorten (z. B. am Grossen St. Bernhard Pass) gesammelt. Die Vereinigten Herbarien Z+ZT erhoffen sich nun aus dem neu gestarteten Digitalisierungsprojekt zur Walliser Flora weitere solche Paradebeispiele aufzudecken, um ihren Beitrag zur Erhaltung der gefährdeten Alpenflora beizusteuern.

Beleg von Murbeckiella pinnatifida vom Grossen St. Bernhard Pass (links; ZT-00158400, Vereinigte Herbarien Z+ZT, CC BY-SA 4.0), wo die Pflanze noch heute vorkommt (in der Mitte; © A. Guggisberg, 15.09.2018). Aus den historischen Herbardaten wissen wir, dass diese Art im Kanton Wallis und Waadt beheimatet ist (rechts; © A. Guggisberg, unveröffentlichte Daten).

Literatur:

Aubert de la Rüe E (1954). Deux ans aux Îles de la Désolation, Archipel de Kerguelen. Paris: Juillard.

Frenot Y, Lebouvier M, Gloaguen JC, Hennion F, Vernon P & Chapuis JL (2006). Impact des changements climatiques et de la fréquentation humaine sur la biodiversité des îles subantarctiques françaises. Revue Belge de Géographie 3: 363-372.

Gurney A (2002). Der weisse Kontinent: die Geschichte der Antarktis und ihrer Entdecker. München: Frederking und Thaler.

Hatt HH (1949). Vitamin C content of an old antiscorbutic: the Kerguelen cabbage. Nature 164:1081-1082.

Heim A & Gansser A (1938). Thron der Götter: Erlebnisse der ersten Schweizerischen Himalaya-Expedition. Zürich: Morgarten-Verlag.

Hooker JD (1844). The botany of the Antarctic voyage of H.M. Discovery ships Erebus and Terror in the years 1839-1843, under the command of Captain Sir James Clark Ross. London: Reeve Brothers.

Koch MA, Kiefer M, German DA, Al-Shehbaz IA, Franzke A, Mummenhoff K & Schmickl R (2012). BrassiBase: Tools and biological resources to study characters and traits in the Brassicaceae–version 1.1. Taxon 61(5): 1001-1009.

Lang PLM, Willems FM, Scheepens JF, Burbano HA & Bossdorf O (2018). Using herbaria to study global environmental change. New Phytologist 221(1): 110-122.

Maarten JM, Fay MF & Chase, MW (2017). Plants of the world: an illustrated encyclopedia of vascular plants. Richmond: Kew Publishing.

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