„Prima di essere ingegneri voi siete uomini“ – „Bevor ihr Ingenieure seid, seid ihr vor allem Menschen“

Dieses Zitat steht auf einer steinernen Tafel im Andenken an Francesco de Sanctis (1817-1883), welche sich im Hauptgebäude der ETH Zürich in der Nähe des Auditorium Maximum befindet. Der italienische Geistes- und Literaturwissenschaftler hatte von 1856-1860 die erste Professur für Italienische Literatur an der ETH inne.

Die Gastprofessur für italienische Literatur- und Kulturwissenschaft trägt noch heute seinen Namen (Cattedra de Sanctis). Der Satz prima di essere ingegneri voi siete uomini stammt aus seiner Antrittsvorlesung 1856 mit dem Titel A’ miei giovani (publ. in Saggi critici) und wurde zum Leitmotiv der humanistischen (Freifächer-)Abteilung des Polytechnikums.

„in questo politecnico rivelo … enthüllte er in glanzvoller Weise den jungen Leuten die Schönheit der grossen poetischen Werke und der sich in ihr spiegelnden reinen und würdevollen Gedankenwelten …“

Fotografie der Gedenktafel von Franceso de Sanctis (ETH-Bibliothek, Bildarchiv)

Die Gedenktafel enthüllt indes auch folgendes: De Sanctis ist als Flüchtling nach Zürich gekommen („esule in libera terra“). 1848 in Italien zum Minister des öffentlichen Unterrichts berufen, musste der liberal gesinnte de Sanctis 1850 zur Zeit der Reaktion für drei Jahre in Neapel ins Gefängnis. Diese Jahre nutzte er, um sich profunde Kenntnisse der deutschen Sprache anzueignen. Er übersetzte Gedichte von Friedrich Schiller und Johann Wolfgang Goethe und Hegels Wissenschaft der Logik (dt. 1812/1816) ins Italienische. Nach seiner Entlassung ging er trotz behördlicher Weisung nicht in die USA, sondern tauchte unter und verblieb schliesslich in Turin.

Mit Hilfe des italienischen Kunsthistorikers und Politikers Gianlorenzo Morelli (1816-1891) versuchte nun der Schweizer Geologe Arnold Escher von der Linth (1807-1872) – seinerseits ab 1856 ebenfalls Professor am Polytechnikum – den berühmten italienischen Literaturkritiker ins liberale Zürich an die neu gegründete Ingenieurschule zu holen. Dies nicht ohne Schwierigkeiten, wie untenstehender Brief Morellis, der fliessend Deutsch sprach, an Arnold Escher von der Linth aufzeigt:

„[..] Seit Empfang Ihres Briefes, (d. 11ten Novb.) schrieb ich bereits zum viertenmal nach Turin. Da ich auf meine drei ersten an De Sanctis gerichteten Briefe keine Antwort erhielt, obwohl ich darin natürliche[r]weise auf eine solche drang, so mußte ich auf den Verdacht gerathen, daß entweder De Sanctis meine oder ich seine Briefe nicht empfangen habe. An mich gerichtete Schreiben haben sehr oft die Ehre gehabt erbrochen zu werden, u. da De Sanctis als polit. Flüchtling u. freisinniger Schriftsteller nicht eben bey allen Regirungen des civilsierten Europa wohl angeschrieben seyn müs[s]te, so dürfte meine Vermuthung, daß meine Briefe an ihn an irgend einem Ha(c)ken unterwegs stecken geblieben seyen, nicht als zu kühn betrachtet werden. […]“

Seite 1 aus dem Brief von Gianlorenzo Morelli an Arnold Escher von der Linth, 30. Nov. 1855, ETH-Bibliothek, Hochschularchiv, Hs 4:1262, doi: 10.7891/e-manuscripta-10242

„Wie ich de Sanctis kenne, so wird ihn – falls nicht gewichtigere Gründe u. Hindernisse da sind – das geringe Honorar von 2,000 frcs. nicht abhalten, einem so ehrenvollen Rufe zu folgen. Vorderhand aber muß ich Sie, verehrter Herr, angelegentlichst bitten diese Angelegenheit unter Ihre Protection nehmen zu wollen u. Ihre verehrl. Collegen in Bern um geduldige Nachsicht anzugehen. Ein paar Wochen Zeit ist kein Verlust, wenn es sich um die Acquisition eines Mannes, wie de Sanctis ist, handelt. Binnen acht Tagen hoffe ich Ihnen eine bestim[m]te Antwort geben zu können, u. sollte ich mich des Telegraphen bedienen, um mit Turin zu correspondiren. Ich werde unseren Feinden nicht so leicht gewon[n]enes Spiel geben.“

Ausschnitt aus Seite 2 des Briefs von Gianlorenzo Morelli an Arnold Escher von der Linth, 30. Nov. 1855, ETH-Bibliothek, Hochschularchiv, Hs 4:1262, doi:10.7891/e-manuscripta-10242

Arnold Escher von der Linths erfolgreiches Bemühen um De Sanctis‘ Berufung ans Eidgenössische Polytechnikum, das damals bei seiner Gründung 1854/55 noch keine Hochschule war, ist ein gutes Beispiel für gelungenes Networking. Es galt, bedeutende Gelehrte und Professoren an der neuen Ingenieurschule zu verpflichten. Man liess Beziehungen und Kontakte im In- und Ausland spielen, um an geeignete Kandidaten heranzutreten. Das berühmteste Beispiel ist wohl der Brief des in Zürich weilenden Richard Wagner an Gottfried Semper vom August 1854, den Wagner auf Bitten von Regierungsrat Sulzer schrieb. Gottfried Semper, der im Februar 1855 zum Professor in Zürich berufen wurde, bot man übrigens das doppelte Gehalt von de Sanctis an, nämlich 4000 fr, dazu „nicht unbedeutende Collegien-Gelder“.

De Sanctis lehrte vier Jahre am Polytechnikum. Interdisziplinarität war ihm ein grosses Anliegen. Er wollte mit seinen Gedanken die Studenten zu ganzheitlichen Menschen heranbilden. Es gäbe noch etwas anderes neben dem Ingenieur, nämlich den „Bürger“, den „Gelehrten“, den „Künstler“. Bildung war für ihn ein allumfassendes Allgemeingut und grundlegendes Menschenrecht.

1860 kehrte de Sanctis nach Italien zurück und wurde 1861 erster Bildungsminister im neu ausgerufenen Königreich Italien unter Vittorio Emanuele II. (1861-1878) und Ministerpräsident Camillo Graf Benso di Cavour (1810-1861). Das Amt des Ministers des öffentlichen Unterrichts sollte de Sanctis unter den Nachfolgern von Cavour 1878 und von 1879-1880 noch zweimal bekleiden. Als Politiker und Literaturwissenschaftler wirkte er aktiv im jungen Italien mit, er führte unter anderem eine Grundschulbildung für alle ein und war prägend für die Entwicklung einer italienischen Nationalliteratur.

Quellen und Verweise:

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