Eine Schwalbe macht noch keinen Sommer – Die erste Maschineningenieurin der ETH

Vor 90 Jahren, am 11. Juli 1922, erhielt Hélène Kernen als erste Frau von der ETH ein „Diplom als Maschineningenieur“. Nicht als Maschineningenieurin. Schwermetall war nach damaligen Vorstellungen nicht für zarte Frauenhände bestimmt ausser in Gestalt gusseiserner Bratpfannen und Kochtöpfe auf dem heimischen Herd.

Matrikel von Hélène Kernen, erste und zweite Seite (ETH-Bibliothek, Archive, EZ-REK1/1/16‘841)

Hélène Kernens Studienzeit vom Herbst 1918 bis Sommer 1922 fiel in eine gesellschaftlich turbulente Phase. Hunger und Teuerung führten Ende des ersten Weltkrieges zu sozialen Unruhen, die im Landesgeneralstreik gipfelten. Als Anerkennung für den Einsatz der Frauen in allen Wirtschaftszweigen anstelle der militärdienstlich abwesenden Männer forderten Frauenorganisationen  die politische Gleichberechtigung. Tatsächlich stimmte von 1919 bis 1922 in fünf Kantonen das Männervolk darüber ab, weitere Abstimmungen wurden vorbereitet. Gleichzeitig betrieben konservative Kräfte die Wiederherstellung der „natürlichen“ Ordnung, das heisst die Rückkehr zu bürgerlich normierten Geschlechterrollen.

Währenddessen besuchte Hélène Keller nebst ihren Pflichtfächern eine Veranstaltung über die „Alpenflora“, machte also einen Ausflug in die als weiblich geltende Natur. Unter den Studierenden der Botanik traf sie zudem eher auf weitere Kolleginnen als im technisch mathematischen Bereich. Anderseits hörte sie ebenso eine Vorlesung zu Ibsens Gesellschaftsdramen, in welchen der Dramatiker die gängigen Geschlechterideale im Licht der Alltagsrealität als leeren Schein entlarvt.

Hélène Kernen wurde am 9. August 1899 in Paris geboren, besuchte da zunächst eine Privatschule, nach dem Umzug der Familie nach Lausanne die örtlichen öffentlichen Grund- und Mittelschulen. Mit dem Abgangszeugnis des Gymnase Scientifique Cantonal liess sie sich, wie zu jener Zeit vorgeschrieben, von ihrem Vater zum Studium an der ETH anmelden. Schon Gustav Kernen hatte an der mechanisch-technischen Abteilung der ETH diplomiert, trat in die Winterthurer Firma Sulzer ein, war Direktor deren Niederlassung in Paris, anschliessend des Firmenzweigs in Lausanne und residierte schliesslich als beratender Ingenieur mit seiner Familie auf Schloss Lutry im Kanton Waadt.

Der Werdegang des Vaters erklärt das Ausbildungsinteresse der Tochter. Doch ohne familiäre Unterstützung oder wenigstens Duldung wäre die Studienwahl von Hélène Kernen nicht möglich gewesen.

Ein Gegenbeispiel dazu bot Professor Stodola, Erneuerer des Maschineningenieurstudiums an der ETH, bei dem Hélène Kernen studierte. Er schickte seine ältere Tochter Helene (1889-1928)  – zufällig trug sie denselben Vornamen wie die spätere erste Maschineningenieurin – nach eigenem Bekunden in „Versuchsabsicht“ ans Mädchengymnasium, wollte sich auch in seinem Privatleben modernen Ausbildungstrends, in diesem Fall für damalige sogenannte höhere Töchter, nicht verschliessen. Zu seinem freudigen Erstaunen begeisterte sich die Tochter speziell für die theoretischen naturwissenschaftlichen Fächer. Aus Sorge um ihre Gesundheit verhinderte er jedoch ihre Teilnahme an der Maturitätsprüfung, vereitelte damit ein Studium, stand ihr wohlmeinend auch künftig fortwährend vor einem selbstbestimmten Leben und drängte sie konsequent in das bürgerliche Frauenideal. Zusammen mit der jüngeren Schwester Olga, die sich seit Kindheit in ihre weibliche Bestimmung fügte, war Helene ausschliesslich im elterlichen Haushalt tätig und ersparte diesem, wie Stodola im Nachruf bemerkt, die Anstellung eines für damalige Professorenhaushalte standesgemässen Dienstmädchens. Nach einer unerfüllten Liebe brach eine organische Krankheit aus, die Helene zu jahrelanger einseitiger Diät zwang. Als das Leiden sich verschlimmerte, wählte sie den Freitod. Es war anscheinend die einzige entscheidende Handlung ihres Lebens, bei der ihr der Vater nicht vorzeitig in die Quere geriet.

Über den weiteren Lebensweg von Hélène Kernen ist dagegen nichts bekannt. Im Unterschied zu ihrem Vater Gustav, dessen Karriere bis zu seinem Tod sich in den Mitgliederverzeichnissen der Gesellschaft ehemaliger Polytechniker verfolgen lässt und dem das Fachblatt „Schweizerische Bauzeitung“ einen kurzen Nachruf widmet, taucht die Tochter weder in den GEP-Verzeichnissen noch in der Fachpresse auf.

Hélène Kernen aus dem Fotoalbum „1922 Masch.Ing. Abteilung Eidg. Techn. Hochschule Zürich“ (ETH-Bibliothek, Bildarchiv, Portr_ 08811-022-AL)

Dank der bis zum Ende des zweiten Weltkriegs gepflegten Tradition an der Abteilung für Maschineningenieure, Erinnerungsblätter oder Erinnerungsalben mit Fotos von den Diplomanden des jeweiligen Jahres anzulegen, ist ein Porträt von Hélène Kernen erhalten geblieben. Beim Blättern im Album von 1922 fällt auf, dass die Studienkollegen alle mehr oder weniger von vorne abgebildet sind.

Einzig Hélène Kernen ist exakt im Profil abgelichtet. Ihr aufgestecktes langes Haar wird so sichtbar. Sie präsentiert die linke Gesichtshälfte, die bis heute als Herzseite gilt, während die rechte Gesichtshälfte, die Verstandesseite, abgewandt liegt. Das Bild demonstriert damit, dass Hélène Kernen trotz männlichem Studienabschluss kein verkappter Mann, sondern im damaligen Verständnis eine „richtige“ Frau ist.

Eine historische Studie über ETH-Ingenieurinnen nach 1955 kommt zum Schluss, dass die Absolventinnen in der Regel beruflich in nicht studienadäquaten Positionen mit geringen Aufstiegschancen landeten und mehrheitlich in das noch immer gängige gesellschaftliche Rollenmuster der idealerweise erwerbslosen Hausfrau und Mutter abgedrängt wurden. Es ist unwahrscheinlich, dass es Hélène Kernen Jahrzehnte früher anders erging. Die Fotografie kann daher noch pointierter verstanden werden: Sie führt die in männliches Territorium verirrte ETH-Absolventin auf den Pfad weiblicher Tugend zurück.

Eine maschinenbetriebene Schwalbe machte noch keinen Sommer. Auf Hélène Kernen folgten nach 1922 erst in grossen zeitlichen Abständen 1931, 1940, 1959  wieder je eine diplomierte Maschineningenieurin, im ganzen Jahrzehnt 1960-69 zwei, 1970-79 vier, 1980-89 fünf einzelne Absolventinnen. 1991 diplomierten erstmals zwei Maschineningenieurinnen im selben Jahr, jedoch in unterschiedlichen Semestern.

Nach dem landesweiten Frauenstreiktag im Juni 1991 wurde endlich zur Förderung der Ingenieurinnen aller Studienrichtungen die Schweizerische Vereinigung der Ingenieurinnen gegründet, die am 28. Juni 2012 den Abschluss ihres Jubiläumsjahres zum 20 jährigen Bestehen feiert.

Quellen:

  • Die Matrikel mit dem Anmeldeformular von Hélène Kernen befindet sich in den Archiven und Nachlässen der ETH-Bibliothek. Die GEP Verzeichnisse sind in verschiedenen Ausführungen ebenfalls an der ETH-Bibliothek zu finden.
  • Aurel Stodola, Helene Stodola 1889-1928. Nachruf des Vaters, Privatdruck 1928 (ETH-Bibliothek, Archive, Beilage zu Hs 496: 104).
  • Nekrolog Gustav Kernen, Schweizerische Bauzeitung, 18. April 1931, S. 209.
  • Daniela Niederberger „Ich tröste mich damit, dass man halt im Leben nicht alles haben kann“: Zur Situation von ETH-Ingenieurinnen in der Schweiz seit 1955. Lizentiatsarbeit Universität Zürich, 1995.

1 Gedanke zu „Eine Schwalbe macht noch keinen Sommer – Die erste Maschineningenieurin der ETH“

  1. Ein nützlicher Beitrag. In den ersten zwanziger Jahren erhielten die ersten Frauen ihre Diplomen an der Universität in Edinburgh. Die zweite, Elizabeth Lindsay, und in gewisser Maße die dritte, Dorothy Buchanan, haben auch als Ingenieurinnen gearbeitet (über der erste weiß man nichts). Zur Zeit schreibe ich ein Artikel über Elizabeth Lindsay, das hoffentlich in einer Fachzeitschrift veröffentlicht wird. Ein Übersicht über den frühen schottischen Diplom-ingieneurinnen findet man in: Nina Baker 2009. Early women engineering graduates from Scottish Universities, Women’s History Magazine 60: 21-30.
    Danke für diese Informationen.

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