Wenn in Bücher reingeschrieben wurde… Eine Notiz zum Projekt „Thomas Mann Nachlassbibliothek“

Wer kennt die Situation nicht: Im eben in der Bibliothek ausgeliehenen Buch hat sich eine Vorleserin oder ein Vorleser exzessiv mit Bleistift – oder schlimmer, weil irreversibel: mit Kugelschreiber oder Permanentmarker – verewigt! Die Sachbeschädigung am öffentlichen Bildungsgut ist das eine; auf das persönliche Leseverhalten können sich fremde Benutzungsspuren störend bis unerwünscht beeinflussend auswirken, zu ignorieren sind sie auf jeden Fall nur schwer.

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Ausschnitt aus Thomas Manns Nachlassbibliothek im nachgebildeten Autoren-Arbeitszimmer des Thomas-Mann-Archivs, mit für die Digitalisierung bezeichneten Büchern. Foto: TMA

Was in öffentlichen Bibliotheken ein Ärgernis darstellt, ist im Falle der Privatbibliothek von Thomas Mann ein Glücksfall. Der Autor, dessen Nachlass im Thomas-Mann-Archiv an der ETH-Bibliothek aufbewahrt wird, hat mit dem Bleistift (und anderen Schreibwerkzeugen) gelesen und in zahlreichen seiner Bücher handschriftliche Notizen, Anstreichungen und Markierungen hinterlassen. Bedeutsam ist dies, weil anhand solcher Lesespuren untersucht werden kann, wie Prozesse des Lesens, von Wissensaneignung und Wissensorganisation ablaufen und wie sie sich in der literarischen Werkproduktion niederschlagen.

Notizen und Anstreichungen von Thomas Mann, Widmung, Besitzervermerk, Enteignungsstempel. Collage: TMA

Bekanntermassen hat Thomas Mann in der Sekundärliteratur Gelesenes in sein eigenes Werk einfliessen lassen. Bisher fehlten jedoch die Instrumente, um die über 4200 Titel umfassende Nachlassbibliothek systematisch in dieser Hinsicht zu beforschen.

Seit April 2016 beschäftigt sich darum ein vom Schweizerischen Nationalfonds gefördertes Kooperationsprojekt zwischen der ETH-Bibliothek und dem Lehrstuhl für Literatur- und Kulturwissenschaften am D-GESS mit der Nachlassbibliothek Thomas Manns. Ziel ist es, die Bücher, die Lesespuren enthalten, zu identifizieren und zu digitalisieren. Damit wird zum einen die Grundlage für die Erschliessung und Transkription der einzelnen Notate geschaffen, zum anderen stellt die Digitalisierung der unikalen Titel eine konservatorische Massnahme dar.

Der digitale Zugang zu Thomas Manns Nachlassbibliothek wird aufzeigen, wie sich das annotierte Buchkorpus zusammensetzt und welche Inhalte markiert wurden. Ausserdem wird die wechselvolle Geschichte der Bücher und die Intensität ihrer Nutzung sichtbar werden: So sind u.a. zahlreiche Widmungsexemplare anderer Autoren vorhanden, von den Nationalsozialisten 1933 enteignete und später restituierte Titel und daneben Bücher, deren Seiten nur partiell aufgeschnitten (und gelesen) worden sind.

Aus dem Projekt wird ein im Thomas-Mann-Archiv zugängliches Recherchetool resultieren, das neue Forschungsperspektiven spezifisch zu Thomas Mann und im Kontext des Gesamtnachlasses eröffnen wird. Darüber hinaus wird der neue Zugang zu diesem Buchbestand auch allgemeiner für kultur- und wissensgeschichtliche Forschungszusammenhänge interessant sein und die Beschäftigung mit Autorenbibliotheken anregen.

1 Gedanke zu „Wenn in Bücher reingeschrieben wurde… Eine Notiz zum Projekt „Thomas Mann Nachlassbibliothek““

  1. Dieses Kooperationsprojekt zwischen der ETH-Bibliothek und dem Lehrstuhl für Literatur- und Kulturwissenschaften ist wirklich spannend. Die Identifizierung und Digitalisierung der Bücher mit Lesespuren eröffnet nicht nur neue Forschungsperspektiven zu Thomas Mann, sondern ermöglicht auch einen Einblick in die Geschichte der Bücher selbst – von Widmungen anderer Autoren bis hin zu Büchern, die während der Nationalsozialisten enteignet und später restituiert wurden.

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