Vom Blättern und Staunen: Andy Warhol und die amerikanische Zeitschrift LIFE

Es gibt wohl nichts Banaleres als an einem Sonntagnachmittag müssig in einer Illustrierten zu blättern. Frische, gewinnend lachende Gesichter blicken dem Betrachter da häufig entgegen, viele bunte Seiten laden den Leser zum Weiterlesen ein. Das ist heute so, das war früher nicht anders.

Als Andy Warhol (1928-1987) nach seinem Studium 1949 nach New York kam, war das Zeichnen während der ersten Jahre ein essentieller Bestandteil seines Alltags. Bei der Suche nach geeigneten Motiven für seine zahlreichen Werbeaufträge liess er sich mit Vorliebe durch die aufkommende Magazin-Kultur und deren Bildsprache inspirieren. Die Mehrheit der Sujets seiner frühen Zeichnungen, die momentan in der Graphischen Sammlung der ETH ausgestellt werden, können eindeutig auf Abbildungen zurückgeführt werden, die der Künstler insbesondere in der legendären amerikanischen Zeitschrift LIFE vorgefunden hat – in diesem schillernden und schicken Bildfundus, der das verführerische moderne Leben zu reflektieren wusste. Aus diesem reichen Bilderschatz bezog der passionierte Voyeur nicht nur seine allererste Inspiration, sondern auch sein künstlerisches Vokabular – indem er durch spezifisches Reduzieren und Transformieren der Vorlagen eine eindrückliche Intensivierung der eigenen Bildsprache erreichen konnte.

Wie das nun genau vor sich ging, kann anhand des folgenden Beispiels demonstriert werden. Zusammen mit Andy Warhol tauchen wir also ein in die LIFE-Ausgabe vom 23. Juli 1951, die man damals für 20 Cents an einem der unzähligen „newsstands“ kaufen konnte.[1] Beim Blättern gewinnt man gleich den Eindruck, es herrsche Überfluss und Zuversicht im Land der unbegrenzten Möglichkeiten. Neben neuesten Haushaltsgeräten und Kosmetikprodukten aller Art werden vor allem modische Genussmittel, aber auch spannende Filme, angesagte Restaurants und andere Vergnügungsorte angepriesen – die Freizeitgesellschaft entsteht, die Mittelschicht ist am Erstarken. Seite für Seite wechseln sich Reklamen und recherchierte Reportagen ab. Bis man schliesslich zu einer der letzten des Heftes gelangt: auf einem Photo steht hier ein Junge mit ausgestreckten Armen auf einem Bahngleis (Abb. 1).

Abb.1: LIFE, 23. Juli 1951, S. 108/109 (vgl. auch: http://tinyurl.com/jhcn9yk, Stand 10.12.2015)

Sich ganz auf seine Füsse konzentrierend balanciert er durch den schwülen Nachmittag des Mittleren Westens. Begleitet von seinem treuen Hund scheint er sich auf diese Weise einfach die Langeweile zu vertreiben. Nicht mehr und nicht weniger. Auch Warhol muss bei diesem auffallend unauffälligen Bild unvermittelt innegehalten haben, als er auf der Suche nach geeigneten Vorlagen die Zeitschrift durchforstete. Er wählte diese schlichte Szenerie nämlich für seine Zeichenstudien aus, übernahm die signifikante Silhouette des Knaben gleich für einige seiner Skizzen. Bei diesen scheint er stets nach einem erprobten Prinzip vorgegangen zu sein: der entscheidende Ausschnitt des Bildes wurde von ihm offensichtlich zuerst mit Bleistift aufs Papier durchgepaust und anschliessend mit schwarzer Tusche umrandet. Während Warhol bei dem einen Umriss noch die ganze Figur eins-zu-eins aufs Papier übertragen hat (Abb. 2), lässt er beim nächsten die Beine weg, nur der schwankende Oberkörper ragt vom unteren Blattrand in den Bildraum hinein (Abb. 3).

Abb.2: Doppelseite aus der Begleitpublikation zur Ausstellung „ANDY WARHOL – THE LIFE YEARS 1949-1959“ (Hirmer 2015, S. 24/25)

Abb.3: Doppelseite aus der Begleitpublikation zur Ausstellung „ANDY WARHOL – THE LIFE YEARS 1949-1959“ (Hirmer 2015, S. 160/161)

Bereits am Blattmass wird deutlich, dass Warhol den Torso beträchtlich vergrössert hat.[2] Dies macht eine detaillierte Betrachtung möglich: die unterlegte Bleistift-Kontur scheint nur rudimentär die Grundformen anzudeuten – etwa an der sichtbaren Hand, die von Warhol dann im zweiten Schritt mit der Tusche intuitiv etwas verlängert wird. Auch die Gesichtspartie erfährt nur eine erste grobe Strukturierung: mit strengen, beinahe geometrischen Strichen definiert Warhol den Hemdausschnitt, die Ohren und den Haaransatz. Die mit Tusche nachgezogene Linie wirkt dagegen fliessend, souverän schmiegt sie sich an die organischen Körperformen an, verlässt die vorgezeichnete Linie, wo nötig. Bis auf die mit parallelem Liniengeflecht ausgeführte Binnenstruktur der Haare umreisst diese zweite, „erschaffende“ Hand akkurat und scheinbar in einem Zug den blossen Körperumriss. Eine seltsam entleerte Hülle ist dies jedoch: trotz des allgemein ruhigen Duktus‘, der Übernahme der exakten, also natürlichen Körperneigung irritiert insbesondere der eigentümlich entseelte, maskenhafte Gesichtsausdruck. Aus den engen Schlitzen im Gesicht scheint ein kalter Hauch zu strömen – vom ursprünglichen Bild ist jedenfalls nicht viel übrig.

Als der amerikanische Photograph Myron Davis (1919-2010) 1945 diese Aufnahme machte, befand er sich tief im amerikanischen Hinterland: für LIFE sollte er im Spätsommer nach Ende des Zweiten Weltkriegs die Leser auf andere Gedanken bringen. Und da traf er in Oskaloosa, einem kleinen Kaff irgendwo in Iowa, auf den zwölfjährigen Larry Jim Holm. Es war ein Geschenk des weiten Himmels. Der Photograph begleitete den unternehmungslustigen Jungen eine Zeit lang, blieb ihm mit seiner Kamera ganz nah auf den Fersen. Für Davis, der seit dem Krieg für die Agentur tätig war und unvorstellbare Gräuel rund um die Welt erlebt und dokumentiert hatte, musste die Welt des Larry den Inbegriff einer lang erhofften friedlichen Zeit dargestellt haben. Es ging um eine idyllische Jugend, einen Sommer voller Freuden wie Fischen, Baden und Herumstreunen, und um eine Ode an die Freundschaft, die tiefe Verbundenheit zwischen dem Jungen und seinem Hund Dunk: „A guy’s almost an orphan without a dog“, wie Larry etwas altklug in der im selben Jahr publizierten Bildreportage zitiert wurde[3]. 1951 wurde das gleiche Photo erneut in LIFE publiziert, allerdings ohne den rührenden Bildanhang von Larrys anderen sommerlichen Aktivitäten. „What’s in a picture…“ wird der Betrachter nun – gemäss dem Titel einer der ständigen Rubriken des Magazins – unter dem ganzseitig abgebildeten Porträt rhetorisch gefragt, um sogleich in einem melancholischen, beinahe existentialistischen Ton zu antworten: „There will always be a boy and his dog.“

Abb.4: Doppelseite aus der Begleitpublikation zur Ausstellung „ANDY WARHOL – THE LIFE YEARS 1949-1959“ (Hirmer 2015, S. 162/163)

Ganz offensichtlich bot dieses Bild für Warhol reichlich Inspiration. Woran mag dies nun gelegen haben? Wohl eher nicht am sentimentalen Appell, sich den eigenen, meist etwas länger zurückliegenden „summer of youth“ in Erinnerung zu rufen, und auch nicht an der rein formalen Schlichtheit des Sujets, die es für eine Verwendung als Vorlage mehr als geeignet erscheinen lässt. Hier deuten sich andere Anknüpfungspunkte an. Der Junge, der mit erhobenen Armen entlang der Schienen einem ungewissen Ziel entgegen zieht, muss für Warhol etwas von seinen eigenen inneren Glutherden symbolisiert haben. Für ihn müssen die Schlagworte im Text wie „summer and boyhood“, „boy walked alone“ oder „simple pleasures“ eine regelrechte Signalwirkung gehabt haben. Waren es Bezüge zur eigenen Person, die in dieser frühen Phase eine wesentliche Rolle spielten? Die als einsam erlebte Kindheit, die zeitlebens intensive Sehnsucht nach Liebe und Anerkennung, die traurige Schönheit eines Kindmannes? Vor allem die verwischten Stellen um die Augen in der dritten, in  der sog. „blotted-line“-Technik ausgeführten Version des Motivs (Abb. 4), sowie der sich auf den Oberkörper mit den ausgestreckten Armen beschränkende Torso, lassen einen unwillkürlich an einen Schmerzensmann denken, wie ihn jeweils der Priester während der Fastenzeit in der christlich-orthodoxen Kirche St. John Chrysostomus in Pittsburgh zu zeigen pflegte – Warhols Familie war tief religiös. Betrachtet man den nackt wirkenden Körper, die leidend geschlossenen Augen, ja die gesamte Opferhaltung, so könnte auch vom hl. Sebastian als Schutzpatron der Homosexuellen die Rede sein – vielleicht ein Hinweis auf die Sexualität des Künstlers und die zeitlebens intensiv wahrgenommene Andersartigkeit. Auf jeden Fall aber oszilliert hier wie so oft die gleichzeitig distanzierende wie intensivierende Wirkung Warhols Adaptionen. Das Photo aus der Zeitschrift scheint präsent – und trotzdem wirkt die Vorlage wie verdeckt. Aber wie wir seit Michelangelo Antonioni wissen, steckt hinter jedem gezeigtem Bild ja ein anderes, das wiederum eins verdeckt …[4]

Infos zur Ausstellung:

 

ANDY WARHOL – THE LIFE YEARS 1949-1959

Graphische Sammlung ETH Zürich

4. November – 23. Dezember 2015; 4. Januar – 17. Januar 2016

www.gs.ethz.ch

In der Ausstellung wurde eine stattliche Gruppe von rund 80 Zeichnungen aus den Anfangsjahren Warhols präsentiert: einige herausragende Beispiele gaben dabei beredt Auskunft über die von ihm entwickelte Kopier-Technik, die sogenannte „blotted line“; vor allem aber wurden – und dies teilweise zum allerersten Mal überhaupt – die Zeichnungen in Bezug zu den Zeitschriften, den primären Bezugsquellen der Vorlagen, gesetzt.

 

Infos zum Katalog:

Anlässlich der Ausstellung ist folgende, von der Graphischen Sammlung ETH herausgegebene Publikation (deutsch/englisch) erschienen: ANDY WARHOL – THE LIFE YEARS 1949-1959, mit Texten von Alexandra Barcal, Olaf Kunde und Paul Tanner, München: Hirmer Verlag, 2015; 196 Seiten, 116 Abbildungen, CHF 35.- (Ausstellungspreis) / EUR 34.90 (Buchhandel), ISBN 978-3-7774-2438-5.

 

Erwähnte Werke:

Abb. 2:

Andy Warhol

o.T. (Boy Arms Outstretched or Portrait of Larry Jim Holm Walking on Rails), c. 1952

Bleistift und Tusche auf Papier

24.8 x 18.2 cm

Daniel Blau München

 

Abb. 3:

Andy Warhol

o.T. (Boy Arms Outstretched or Portrait of Larry Jim Holm Walking on Rails), c. 1952

Bleistift und Tusche auf Papier

35.3 x 42.6 cm

Daniel Blau München

 

Abb. 4:

Andy Warhol

o.T. (Boy Arms Outstretched or Portrait of Larry Jim Holm Walking on Rails), c. 1952

Tusche auf Papier

28 x 72.4 cm

Daniel Blau München

 

[1] Seit 2008 sind dank einer Kooperation zwischen dem US-Medienkonzern Time Warner und dem Suchmaschinenbetreiber Google rund 10 Millionen Fotos aus den Beständen des früheren Photomagazins LIFE im Internet aufgeschaltet. Bei Google Books können gar alle erschienenen Hefte durchgeblättert werden; die hier erwähnte Nummer vom LIFE, 23. Juli  1951 wäre unter folgendem Link abrufbar: https://books.google.ch/books?id=l04EAAAAMBAJ&printsec=frontcover&hl=de&source=gbs_ge_summary_r#v=onepage&q&f=false (Stand 10.10.2015)

[2] Aus diversen Quellen ist bekannt, dass Warhol vorzugsweise mit einem Lichtprojektor gearbeitet hat, etwa durch die Aussage von Ted Carey im Interview mit Patrick Smith am 13. November 1978: „Warhol had an opaque projector […] and Warhol often used pictures that appeared in LIFE magazine.”, in: Patrick Smith, Andy Warhol’s Art and Films, Ann Arbor: UMI Research Press, 1986, S. 265.

[3] Vgl. LIFE, 3. September  1945, S.14: http://books.google.ch/books?id=q0kEAAAAMBAJ&printsec=frontcover&hl=de&source=gbs_ge_summary_r&cad=0#v=onepage&q&f=false (Stand 10.12.2015)

[4] Das ganze Zitat lautet: „Wir wissen, dass hinter jedem gezeigtem Bild ein anderes steckt und dass dieses Bild der Wirklichkeit gerechter würde, und im Rücken des Bildes steckt ein weiteres und noch eines hinter diesem und so weiter, bis zum wahren Bild jener letzten, mysteriösen Wirklichkeit, die keiner je erblickt.” Dies ist der letzte Satz  des Erzählers im Antonionis letzten Film Jenseits der Wolken, den er 1994 mithilfe von Wim Wenders gedreht hat.

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