Stufen im Schnee – eine Bergtour 1803 im Rückblick

Über 2000 Briefe zählt die wissenschaftliche Korrespondenz von Arnold Escher, die im Hochschularchiv der ETH Zürich aufbewahrt wird. Worüber wird darin geschrieben? Welche Mitteilungen können wir heute noch einordnen? Welche im speziellen wissenschaftsgeschichtlichen Schlüsse können wir mit ihrer Hilfe ziehen?

Der eine oder andere Hinweis mag wohl reichlich knapp ausgefallen sein und ist heute nicht mehr verständlich. Anderes vermittelt neue Einsichten und trägt dazu bei, dass neues historisches Wissen entsteht.

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Melchior Kirchhofer erinnert sich an die Osterwoche 1803: „… über den Schnee gingen wir ins Wildkirchlein, wo wir osterten und der nie fehlende Hammer diente drye Stuffen in den Schnee zu bilden, der zuerst den Ausgang auf die Ebenalp verhinderte.“ ETH-Bibliothek, Hochschularchiv, Hs 4:796, doi: 10.7891/e-manuscripta-7280

Die seit einigen Monaten auf www.e-manuscripta.ch Seite für Seite direkt aufrufbaren Briefe sind heute schnell und bequem einzusehen und dank der Angaben zum Briefverfasser gut einzuordnen.

Einen einzelnen Brief herausgreifen heisst, mitten in „Geschichte“ einzutauchen, in Lebenszusammenhänge in der Schweiz, die prägten, die damals und heute Interpretationen erfahren haben.

Aus der Feder des Schaffhauser Reformationshistorikers Melchior Kirchhofer (1775-1853) ist in der Korrespondenz von Arnold Escher nur ein einziger Brief überliefert. Kirchhofer wendet sich mit weit über 70 Jahren an den noch nicht 40jährigen Zürcher Geologen. Im Brief vom 10. März 1852 vergegenwärtigt er sich Stationen aus dem Leben des Vaters von Arnold Escher, von Hans Conrad Escher, dem Erbauer des Linthkanals. Anlass dazu bildet die Kirchhofer zugesandte Biographie über H.C. Escher, verfasst von J.J. Hottinger, die 1852 bei Orell Füssli in Zürich erschienen ist. Melchior Kirchhofer kommt auf das Ende der Umbruchzeit von 1798 bis 1803 zu sprechen, nachdem der spätere Napoleon mit Truppen zeitweise Schweizer Terrain erobert hatte und die wiederholten Anläufe wechselnder helvetischer Regierungen, die Schweiz zentraler als bisher zu regieren, fürs erste gescheitert waren, nicht zuletzt, weil die machtstrategischen Konzepte des revolutionären Nachbars im Westen dies verunmöglichten. Die Politikverdrossenheit unter den Angehörigen der Führungsschicht war gross. Viele hatten sich in vaterländischen Staatsdienst begeben und waren angesichts der Entwicklungen schwer enttäuscht worden. Melchior Kirchhofer schreibt Arnold Escher: „Ihr Vater war damals so froh und frei wie der Vogel in der freien Luft“ und er erinnert sich, wie sie sich 1803 zu einer Bergtour aufmachten, gemeinsam unterwegs als Freundeskreis, diesmal gebildet aus Hans Conrad Escher, Johann Rudolf Steinmüller, Diakon Gruner und ihm.  Nach Ostern 1803 etwa Mitte April ging die Bergreise in den Schnee los, führte zum Wildkirchlein am Säntis, später nach Glarus und über den Pragel nach Schwyz, eine Alpenwanderung, die Melchior Kirchhofer offenbar als eindrückliches Erlebnis in Erinnerung behielt, nicht nur als Reise in Eschers geliebte Berge, sondern als zeitweilig von allem losgelöste Unternehmung, um gewissermassen den inneren Kompass auszurichten.

Schweizerische Politik war vorerst nicht das Feld, das lockte. Hans Conrad Escher lag nun anderes näher: die Familie, die geognostischen Studien und ab 1807 ein trotz an sich widriger Zeitumstände verwirklichtes, gewaltiges gemeineidgenössisches Projekt: die Linthkorrektion, mit der das Linthsumpfgebiet in Zukunft vor Malaria und Überflutungen verschont wurde.

Das Helvetikbild, das bei Melchior Kirchhofer mitschwingt, ist eine der Sichtweisen, die sich schon im 19. Jahrhundert herausbildeten, gegensätzliche Interpretationen, die – je nach Kanton  – die Erlangung der kantonalen Selbständigkeit und weitere Errungenschaften betonten oder das Fiasko auf schweizerischer Ebene, den politischen Verdruss und die Fremdherrschaft herausstrichen.

Links:

Die Briefe an Arnold Escher sind recherchierbar in e-manuscripta

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